Dokumentation, Gesine Schmidt: Die Sehnsucht nach dem Authentischen

Die Sehnsucht nach dem Authentischen

Von Gesine Schmidt

Die Kunst steht dem Leben am nächsten; sie bietet einen Weg, unsere
Erfahrung zu erweitern und den Kontakt zu unseren Mitmenschen über
unsere persönlichen Grenzen hinaus auszudehnen. George Eliot

Gesine Schmidt. Foto: Autorenarchiv Susanne Schleyer & Michael J.Stephan

Gesine Schmidt. Foto: Autorenarchiv Susanne Schleyer & Michael J.Stephan

In meinen Hörspielen, die auf der Basis von authentischem Material entstehen, geht es mir um die Suche nach dem Nahen im Fremden, nach der Grenze zwischen Normalität und Abweichung und dem gesellschaftlichen Umgang damit. Deshalb interessieren mich die Menschen und Perspektiven hinter den Zuschreibungen der öffentlichen Wahrnehmung.

Mit der Technik autobiografisch-narrativer Interviews lasse ich mich auf die Perspektive und Erzähldramaturgie meiner Protagonisten ein. Aus den einzelnen Erzählungen konstruiere ich zunächst in sich geschlossene Monologe, um das jeweilige Substrat freizulegen. Der individuelle Erzählstil, das zentrale Thema und die charakteristischen Sprachmerkmale werden fixiert und verdichtet. Die einzelnen monolithischen Blöcke werden nach zeitlichen und thematischen Bezügen miteinander verschnitten und in einen dramaturgischen Spannungsbogen gefasst. Mit der Montage der biografischen Erzählungen versuche ich neue Aufmerksamkeitsfelder zu schaffen und gewohnte Wahrnehmungsmuster und Urteile zu irritieren, um neue Sichtweisen zu ermöglichen.

Durch die künstlerische Verdichtung, den Aneignungsvorgang der Schauspieler und den Klang- und Assoziationsraum des Mediums Hörspiel intensiviert sich die Wirkung, es entsteht eine andere Konzentration. Dadurch gewinnt der Text eine Interpretationsebene hinzu, die vom Individuellen wieder auf das Ganze verweist.

Während es in meinem Stück „liebesrap“ (2010) um einen Abschnitt im Leben eines jungen türkisch-deutschen Pärchens aus einem Berliner Brennpunktkiez ging, kommen in „Oops, wrong Planet!“ Menschen aus dem autistischen Spektrum zu Wort.

Das autistische Spektrum umfasst eine bunte Gruppe von Individuen, die nicht in die neurologische Norm passen. Das heißt, sie tun alle möglichen von der Norm abweichenden Dinge in abweichender Weise und haben eine andere Perspektive auf die Welt. Diese Wahrnehmungsverschiebung hat mich interessiert. Der Titel des Stücks bezieht sich auf einen Begriff, der im autistischen Untergrund gebräuchlich ist. Das Asperger-Syndrom wird von den Betroffenen selber als „Oops-Wrong-Planet-Syndrom“ bezeichnet, um ihr Fremdheitsgefühl auf diesem Planeten auszudrücken. Mir gefällt daran, dass sich die Menschen aus dem autistischen Spektrum dabei nicht als Opfer des Autismus verstehen. Fremd in der Welt fühlen sie sich von der Mehrheitsgesellschaft falsch verstanden und beurteilt.

Wichtig war mir bei der Recherche, möglichst unterschiedliche Protagonisten aus verschiedenen Altersgruppen zu finden, um die kaleidoskopische Vielfalt des autistischen Spektrums zu zeigen. Es gibt nicht den typischen Autisten, so wie es nicht die neurologisch Typischen gibt. Das Panoptikum an Wahrnehmungen, Haltungen und Ausdrucksformen äußert sich in völlig verschiedenen Sprachbehandlungen. Während Christine, als Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, über ihre eigenen Erfahrungen und Schwierigkeiten mit dem Asperger-Syndrom sachlich aufklärend berichtet, befindet sich der 16-jährige Steven noch mitten in der schmerzhaften Ausgrenzungserfahrung. Die beiden 25-jährigen Philosophie-Studenten Konstantin und Kornelius stehen über den Dingen und benutzen zur Verständigung ausschließlich die schriftliche Sprache. Und dennoch sind die Zwillinge Sprachartisten und jonglieren virtuos in literarischer Form mit Wörtern und Lebenseinsichten. Die Mutter als Brücke zur Welt, als Mediatorin für ihr autistisches Kind, ist oftmals der engste Bezugspunkt zur Außenwelt. Einfühlsam berichtet Doreen von ihrer Lebenssituation mit ihrer 14-jährigen Tochter, die mit frühkindlichem Autismus auf die Welt kam.

Regisseur Walter Adler hat gemeinsam mit dem Komponisten Pierre Oser den unterschiedlichen Stimmen eine eigene Sprachmelodie, einen eigenen Rhythmus gegeben und dadurch einen inszenatorisch-kompositorischen Rahmen geschaffen, in dem die Figuren sich individuell entfalten können, ohne die Form zu verlieren. So erschließt sich im vielstimmigen Chor die Einzelstimme und bezieht den Zuhörer unmittelbar mit ein.

Das Medium Hörspiel verwandelt sich zu einem soziologischen Laboratorium, in dem verschiedene Lebenshaltungen sinnlich erfahrbar und erlebt werden können. Der Zuhörer wird aktiv einbezogen, denn dokumentiert wird auch immer sein eigenes Verhalten zum Dokumentierten. Früher war man der Ansicht, Authentizität wäre nur dort zu entdecken, wo keine Inszenierung vorläge. Heute gibt es keine Wirklichkeit mehr ohne Inszenierung. Erst die dramaturgische Bearbeitung, die Aufbereitung der Sprache und Interaktionen, macht authentisches Erleben in der Kunst wieder möglich.

Funkkorrespondenz 23/2013

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