Dokumentation, Frank Naumann: Die verbotene Welt

Die verbotene Welt

Von Frank Naumann

Frank Naumann. Foto: privat

Frank Naumann. Foto: privat

Als 1984 in Berlin Unter den Linden ein französisches Kulturzentrum seine Pforten öffnete, nutzte ich als Doktorand die Chance, mich aus erster Hand über die Postmoderne zu informieren. Bislang waren nur Gerüchte zu uns gedrungen. Vom Jean-François Lyotard, dem Hauptvertreter der Postmoderne, besaß die Bibliothek des Kulturzentrums zwei schmale Bände. Auf Französisch – weshalb sie nicht längst ausgeliehen oder geklaut waren. Eine neue Philosophie statt der ewigen Marx-Exegese! Voll Erwartung schlug ich das erste Buch auf und las: Die Moderne ist gescheitert. Alle Erzählungen sind erzählt, es sind nur noch Sprachspiele möglich.

Gerade eroberten Glasnost und Perestroika unsere Diskurse. Aufregende neue Kunstwerke erreichten – zum Teil über Umwege – auch die DDR. Eine neue Wirklichkeit brachte neue Erzählungen, neue Utopien und ein neues Denken hervor. Alles schon erzählt? Als Lyotard kurz vor Ende der DDR zu einem Vortrag nach Berlin in das französische Kulturzentrum kam, präsentierte er selbst eine neue Erzählung. In ferner Zukunft müsse die Menschheit auf fremde Planeten auswandern, nachdem der eigene ihr zu eng geworden sein würde.

Auch ich bin ein Erzähler. Sprachspiele und Experimente mit neuen Formen sind nicht mein Metier. Ich suche neue Inhalte. Themen, die das Publikum außerhalb der Funkhäuser und Philosophie-Seminare fesseln. Ich komme aus der Kommunikationsforschung. Sie lehrt: Ob eine Botschaft ankommt, entscheidet der Empfänger. Wen also könnten meine Geschichten interessieren? Ich denke an den Lkw-Fahrer, den spannende Radiogeschichten besser wachhalten als gleichförmige Disco-Rhythmen. Oder an den Literaturfan, der die Standardstorys der Fernsehmassenware satt hat. Und ich wende mich an die mehr als eine Million Blinden und Sehbehinderten im deutschsprachigen Raum, denen das Hörspiel als akustische Erzählform besonders entgegenkommt.

Ich habe kein Talent für Sprint oder Marathon. Weder beim Waldlauf noch als Autor. Mir liegt die Fünfzig-Minuten-Strecke. Das Hörspiel erlaubt mir, in weniger als einer Stunde ein menschliches Universum zu entfalten. Ich erzähle vom Berufsanfänger, der an einem Tag gemobbt, umworben, zum Chef befördert wird und am nächsten Morgen erfährt: Den Test machen wir mit jedem. Von einem Pannensprecher, der bei einem Senderausfall plötzlich reden muss und verzweifelt nach einem Thema sucht. Von Diogenes, der aus Ärger über die Athener Bürokratie in eine Tonne zieht. Von einer Regierung, die per Dekret alle Bürger sieben Jahre jünger macht, um die Rentenkassen zu entlasten. Und schließlich von meinem Alter ego René, der in der DDR von der verbotenen Welt Frankreichs nicht nur träumt. Paris! Ein sagenhafter Ort, ihm nur aus alten Romanen bekannt. Wie kann er eine Welt erforschen, zu der er keinen Zugang erhält? Nun, wie ein Astronom, der seine Planeten ja auch nie persönlich betreten wird. Er sucht indirekte Wege. Er lernt die Sprache Frankreichs, die er in seiner Kleinstadt noch nie jemanden hat sprechen hören. Mit der internationalen Lautschrift versucht er ihren Klang zu rekonstruieren. Die verbotene Welt öffnet sich ihm zuerst als eine Hörwelt.

Hat René mit seinem exotischen Hobby als Mitläufer das System stabilisiert? Hat er sich herausgehalten, indem er sich in eine gesellschaftliche Nische zurückzog? Oder war sein Entschluss, autodidaktisch eine westliche Sprache zu lernen und das Kulturzentrum des Klassenfeindes zu nutzen, ein Akt des Widerstandes?

Als Erzähler bin ich befangen. Ich möchte, dass Sie – die Hörerinnen und Hörer – die Antwort geben. Gibt es heute keine verbotenen Welten mehr? Bis 1989 durfte René nicht nach Paris fahren. Aber er konnte in der Wissenschaft arbeiten, auf einem Gebiet, das ihn interessierte. Ab 1990 stand ihm Frankreich offen, doch seine Universität warf ihn hinaus, mit dreitausend anderen, Philosophen ebenso wie Mathematiker oder Mediziner. Auf ihre Stellen lauerten schon Jungakademiker von westlichen Universitäten, die ihre eigenen Mitarbeiter mitbrachten.

Das Hörspiel „Die verbotene Welt“ ist ein Gemeinschaftsprodukt. Der Sender des am weitesten von der DDR entfernten Bundeslandes hat Renés Geschichte produziert. Anette Kührmeyer vom Saarländischen Rundfunk (SR) hat mir viele Stunden per Telefon und Mail geholfen, die ihr fremde Welt des DDR-Alltags gesamtdeutsch nachvollziehbar zu machen. Ohne ihr Engagement und ihren klugen Rat wäre mein Stück nicht unter den Auserwählten. Dafür möchte ich mich bei ihr besonders bedanken. Mein Dank gilt außerdem Juliane Schmidt vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) für ihre Unterstützung der Produktion und Steffen Moratz für seine einfühlsame Regie.

Das Leben in der DDR galt weithin als grau und langweilig. Dass die Jury mein Stück unter die besten drei gewählt hat, empfinde ich als zweifache Anerkennung – für die erzählte und die von mir erlebte Geschichte. Ein erzählenswertes Leben war nicht vergeudet. Ich danke den Juroren für diese persönliche Genugtuung.

Funkkorrespondenz 23/2013

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