Der ideale Aggregatzustand

Annie Ernaux: Die Jahre

HR 2 Kultur, So 30.12.2018, 14.05 bis 15.24 Uhr

Was verbindet uns eigentlich miteinander? Die 1940 in der Normandie geborene Schriftstellerin Annie Ernaux beantwortet diese selbstgestellte Frage in ihrem autobiografischen Roman „Die Jahre“ („Les années“) mit dem Satz: „Weder das Blut noch die Gene, nur eine Gegenwart aus Tausenden gemeinsam verbrachten Tagen, aus Worten und Gesten, aus Mahlzeiten, Autofahrten, unzähligen geteilten Erfahrungen, derer man sich nicht bewusst war.“ Als dieser Satz fällt, sind in der Hörspielversion des Romans (Bearbeitung und Regie: Luise Voigt) schon 68 der insgesamt 79 Minuten vergangen. Währenddessen ist das Pendel eines Metronoms ein paar tausend Mal hin- und hergeschwankt und man hat zunehmend fasziniert einer Erzählung zugehört, die auf ein Ich in der ersten Person Singular verzichten kann und trotzdem ein Leben umfasst. Im Fokus aber steht die Geschichte, die sich zwischen 1940 und dem Jahr 2008, in dem der Roman in Frankreich veröffentlicht wurde, ereignet hat. „Les années“ ist erst 2017 auf Deutsch erschienen (Übersetzung aus dem Französischen: Sonja Finck).

Je mehr die Autorin metaphernarm konstatierend von sich berichtet (hier ein Youtube-Video), umso mehr wird einem bewusst, welche unglaublichen Transformationen die Welt in den letzten acht Jahrzehnten durchlaufen hat und welche Folgen das für die Individuen hatte. Noch in den 1950er Jahren wurde einer zu schick gekleideten Sekretärin nachgesagt: „Sie trägt ihre gesamten Ersparnisse am Körper.“ Die Sexualmoral in der französischen Provinz war streng. Gegen die Onanie, die als unnatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebs galt, wurden Kaltwasserkuren sowie arsen- oder eisenhaltige Arzneien verordnet. „Für Mädchen war die Scham eine ständige Bedrohung“, lautet ein Satz im Hörspiel.

Es sind Birte Schnöink (Jahrgang 1984), Constanze Becker (Jahrgang 1978), Corinna Harfouch (Jahrgang 1954) und Nicole Heesters (Jahrgang 1937), die im beständigen Wechsel dem Text ihre Stimmen und dabei eine Stimme geben. Locker den Lebensaltern von 15 bis 25, 30 bis 45, 50 bis 65 und 70 bis 85 Jahren zugeordnet, ergibt sich ein zugleich kollektives und zugleich singuläres Subjekt, das sich in der dritten Person Singular oder im unpersönlichen „man“ mit einem soziologischen, aber auch empathischen Blick von außen betrachtet. Es formt sich das Bild einer Person, die sich vorstellt, „dass man ihr Leben auf zwei über Kreuz liegenden Achsen wiedergeben könnte, auf der horizontalen ist alles eingezeichnet, was sie je erlebt, gesehen, gehört hat, auf der vertikalen nur ein paar Bilder, die sich in der Dunkelheit verlieren.“ So sind denn auch Bildbeschreibungen von Fotos integraler Bestandteil der reflektierenden Rückschau von Annie Ernaux. Die Erzählung, obwohl sie sich weitgehend im Präteritum abspielt, strahlt paradoxerweise in jedem Moment eine einnehmende Gegenwärtigkeit aus. Selbst als man kurz vor der Jahrhundertwende Bilanz zieht, „als müsste man mit einem leeren Gedächtnis ins 21. Jahrhundert eintreten“.

Verantwortlich für den unglaublichen Sog, der in die Geschichte hineinzieht, sind die repetitiven, an die Filmmusiken Michael Nymans erinnernden Kompositionen von Björn SC Deigner, der es sogar schafft, das über die ganze Hörspiellänge beständig uhrgleich durchs Stereobild tickende Metronom variabel einzusetzen. Dem technischen Taktgeber stehen die Stimmen gegenüber, die durch ihr jeweiliges Tempo und ihre je eigene Färbung dem Text eine Dynamik verleihen, als sei er genau für das akustische Medium geschrieben. Das spricht einerseits für die Qualität der Vorlage, mehr noch aber für die Kunstfertigkeit der Regie von Luise Voigt.

Die nicht überakzentuierte, aber eindeutig hörbare technische Beschleunigung der Stimmen an manchen Stellen verweist auf die spezielle Materialität des akustischen Mediums, wie auch die Romanvorlage unaufdringlich ihre Literarizität ausstellt. Georges Perecs Roman „Die Dinge – Eine Geschichte der sechziger Jahre“ aus dem Jahr 1965 grüßt von ferne. Und ihrerseits sind „Die Jahre“ zur Inspirationsquelle von Didier Eribons Erfolgsroman „Rückkehr nach Reims“ (2009) geworden. Im Hörspiel, das heißt im flüchtigen Verlauf einer zeitbasierten Kunstform, hat der zugleich autobiografische wie historische Roman von Annie Ernaux einen idealen Aggregatzustand gefunden.

Jochen Meißne – Medienkorrespondenz 4/2019

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.