Den Krieg umrunden

Dom Bouffard: WW1

SWR 2, Do 18.02.2016, 22.03 bis 22.58 Uhr

Wenn man dem Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott glaubt, der am 5. Fe­bruar im Morgenmagazin „Studio 9“ von Deutschlandradio Kultur interviewt wurde, dann ist Dada einerseits ziemlich tot und andererseits ziemlich allgegenwärtig. Denn einhundert Jahre nach der Geburt Dadas im Zürcher „Cabaret Voltaire“ am 5. Februar 1916 sind dadaistische Verfahrens- und Denkweisen feste Bestandteile kultureller Weltbewältigung. Schrott definiert die dadaistische Geisteshaltung als eine komplexe Mischung aus literarischem Existenzialismus und humanistischem Relativismus. Diese Geisteshaltung sei allerdings so ausgehöhlt, dass sie nichts mehr bedeute, gerade weil man die Welt – wie schon die Dadaisten – nur noch als Zitatsammlung, Readymade, Happening und absurdes Theater auffasse, die es nur noch zu einem Kunstwerk zu collagieren gelte.

Der Surrealismus als unmittelbare Fortentwicklung Dadas, Fluxus als Neodada und Christoph Schlingensiefs Neofluxus sind über die Jahrzehnte immer wieder aufbrechende Phänomene in der Kunstgeschichte, die das Ungenügen der Welt thematisieren. Selbst in den Biografien gibt es Ähnlichkeiten: So hatte Schlingensief, kurz bevor er im August 2010 starb, zu (s)einer Kirche der Angst gefunden, wie rund neunzig Jahre zuvor der Dada-Erfinder Hugo Ball zum Katholizismus. Die Rückseite der lustvollen Zurückweisungen von Sinnzumutungen durch Dada im friedlichen Zürich des Jahres 1916 war der mörderische Un-Sinn des Ersten Weltkriegs. Auf dessen Schlachtfeldern wurde nicht nur das Humanum militärischen Kalkulationen geopfert, sondern in diesem Krieg wurde auch noch das Radio erfunden und zudem die Unterhaltungsindustrie, die laut dem Medientheoretiker Friedrich Kittler „in jedem Sinne Missbrauch von Heeresgerät“ war.

Der Sender SWR 2 hat im Umfeld des diesjährigen 100. Dada-Jubiläums das 55-minütige vom Hessischen Rundfunk (HR) produzierte Stück „WW1“ ins Programm genommen, das am 22. April vorigen Jahres um 21.00 Uhr von HR 2 Kultur urgesendet worden war. Autor von „WW1“ ist der britische Komponist und Musiker Dom Bouffard, der der Produktion die Gattungsbezeichnung „Radiostück“ gegeben hat. Gewidmet ist das Hörspiel Robert Wilson, für den Bouffard auch die Musik zu dessen Debüthörspiel „Monsters of Grace II“ komponiert hat.

Die Textbasis für Dom Bouffards Auseinandersetzung mit dem World War One besteht aus expressionistischen Gedichten von Alfred Lichtenstein und August Stramm, die er auf hierzulande weniger bekannte englischsprachige Lyrik von Helen Parry Eden, May Herschel-Clarke, John McCrae und D.H. Lawrence treffen lässt. Auch ein französisches Kalligramm von Guillaume Apollinaire („Le petit auto“) ist dabei, das die Fahrt vom Normandie-Küstenort Deauville nach Paris zur Mobilmachung beschreibt.

Den Auftakt des Stücks bildet jedoch Rilkes Beschwörung des Kriegs-Gottes aus den „Fünf Gesängen“, die der Dichter Anfang August 1914 schrieb. Zunächst wird das Gedicht rückwärts eingespielt, bevor es verständlich zitiert wird: „Zum ersten Mal seh ich dich aufstehn / hörengesagter fernster unglaublicher Kriegs-Gott“. Dann erklingen die Trommeln des Krieges, die von einer elektronisch verfremdeten historischen Aufnahme der Lautgedichte des Dadasophen Raoul Hausmann aus dem Jahr 1918 abgelöst werden. Direkt danach folgt eine zerhackte und wieder zusammengeklebte Fassung des Gedichts „Jetzt tut man mir nichts mehr beim Militär“, das vom expressionistischen Dichter Alfred Lichtenstein stammt, der wenige Wochen nach Kriegsbeginn gefallen ist: „Bald wirft man mich ins milde Massengrab / Am Himmel brennt das brave Abendrot / Vielleicht bin ich in dreizehn Tagen tot“ – so formuliert er seine Vorahnung in dem zehnzeiligen Gedicht „Abschied“.

Stramm und Apollinaire sollten ebenso wie Lichtenstein den Ersten Weltkrieg nicht überleben. Rilke distanziert sich in einem Brief vom 15. Oktober 1915 von seinem Gedicht: „Nur die ersten drei, vier Tage im August 1914 meinte ich einen monströsen Gott aufstehen zu sehen; gleich darauf wars nur das Monstrum, aber es hatte Köpfe, es hatte Tatzen, es hatte einen alles verschlingenden Leib –, drei Monate später sah ich das Gespenst – und jetzt, seit wie lange schon, ist’s nur die böse Ausdünstung aus dem Menschensumpf.“

Während Bouffard die lyrischen Texte nach dadaistischer Methode zerschnipselt, ohne die Wortgrenzen zu verletzen, durchmisst die Musik den Klangraum zwischen elegisch-untermalenden Klängen und maschinenhaft dröhnenden Crescendi. Am Ende kommt das Hörspiel wieder bei seinem Beginn an, bei einer Wörtercollage aus blauen, roten, goldenen Sonnen und blutendem, schweigenden Eisen. Bouffards Radiostück hat seinen Gegenstand einmal umkreist, um wieder bei sich anzukommen.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 4/2016

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