Das trojanische Pferd an der Phantomhaltestelle

Eine Tatortbegehung der europäischen Krimilandschaft beim Prix Italia

Ende September im Rom. Vom 23. bis 28. September läuft der 71. Prix Italia, einer der ältesten Wettbewerbe für Fernseh- und Radioprogramme. Ein Preis der international fast bekannter ist als in Italien, wie Marcello Foa, der Präsident des öffentlich-rechtlichen italienischen Rundfunks RAI, zur Eröffnung sagte. Auf dem Hotelfernseher in Rom gibt es keine deutschen, ja, nicht einmal deutschsprachige Programme. Nur die Deutsche Welle (DW) ist dabei, aber hier gibt es nur das englischsprachige Programm. Und plötzlich merkt man, wie sehr die deutsche TV-Landschaft doch bei sich bleibt.

Weil neue Perspektiven immer gut sind, veranstaltete der Prix Italia 2019 auch eine Tatortbegehung: „On the Crime Scene. The European Way to Crime Drama“ lautete der Titel einer Podiumsdiskussion mit Programmverantwortlichen aus Italien, Schweden, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Singular im Titel, der „European Way“, hätte schon misstrauisch machen sollen, denn würde man bei den in Rom präsentierten Trailern die Sprache weglassen, könnte man kaum unterscheiden, aus welchem Land die Krimis kommen. Überall die gleichen, meist genderquotierten Ermittlerpärchen, die gleichen Gesichtsausdrücke, die gleichen Knarren und meist auch die gleichen Autosponsoren für den Fuhrpark der Kriminalbehörden. Das muss diese europäische Integration sein,  von der immer alle rede

Die, die dann auf dem Podium redeten, waren denn auch sehr mit sich zufrieden. Takis Candilis, Programmdirektor und Vizepräsident von France Télévisions, berichtete, dass auf France 2 neun von zehn der beliebtesten Sendungen Krimis seien. Auf France 3 seien es zehn von zehn. Man müsse halt genau wissen, was das Publikum wolle, und manche Serien würde man nur aus diesem einen Grund weiterproduzieren. Richtig unglücklich schien der Mann vom öffentlich-rechtlichen französischen Fernsehen dabei aber nicht zu sein.

Ähnliches, allerdings mit schlechterem Gewissen, sagte auch Anna Croneman, seit 2017 Programmdirektorin beim schwedischen Fernsehen SVT und damit just seit dem Jahr, in dem einer der Autoren der dänischen Serie „Forbrydelsen“ (englischer Titel „The Killing“, in Deutschland bei ZDF und Arte: „Kommissarin Lund – Das Verbrechen“) das Sub-Gerne „Nordic Noir“ für tot erklärte. Doch Totgesagte leben bekanntlich länger und selbst an einem so untoten Genre wie der skandinavischen Gewaltpornografie im Krimigewand wird noch so lange herumgeflickt, bis es gänzlich fadenscheinig geworden ist.

Öffentlich-rechtlicher Abholservice

Die Argumentation verläuft dabei länderübergreifend immer gleich: Man müsse das Publikum dort, abholen wo es sei. Niemand stellt sich allerdings die Frage, wo man mit dem Publikum dann hin will. Man kann den Eindruck haben, das öffentlich-rechtliche Fernsehen betreibe Phantombushaltestellen wie vor einer Demenzklinik. Da wird man zuverlässig abgeholt und kommt doch nie irgendwo anders an.

Wem dieser Abholservice zu wenig ist, der weicht – passend zum Jupiterfries in der römischen Malteser-Residenz, vor dem die „Crime-Scene“-Diskussion stattfand – auf eine mythologisch Argumentation aus, die ungefähr so funktioniert: Ja, wir senden zwar jeden Tag Krimis, weil die (von uns so konditionierten) Leute das sehen wollen, aber eigentlich wollen wir ja etwas ganz anderes erzählen. Die Krimiform sei nur ein „trojanisches Pferd“. Was bedeutet, dass man eigentlich etwas anderes will, als man nach außen zeigt – nämlich Troja zerstören.

Doch dem Gros der Produktionen sieht man an, dass die Redakteure und die Programmmacher die Ausgangsklappe aus ihrem hölzernen Gaul vergessen haben und in ihrem selbst vernagelten trojanischen Pferd festsitzen. Wobei sich der Eindruck aufdrängt, dass man sich mit dieser Argumentation sowieso in die eigene Tasche lügt. Bei Fernsehkrimis, denen man die pädagogische Absicht ansieht, ist man zu Recht verstimmt. Und von den sogenannten „experimentellen ‘Tatorten’“, die erzähltechnisch etwas wagen, will man laut ARD-Fernsehfilmkoordinator Jörg Schönenborn (WDR) ja auch nur noch maximal zwei pro Jahr produzieren.

71. Prix Italia 2019 „On the Crime Scene. The European Way to Crime Drama“

71. Prix Italia 2019 „On the Crime Scene. The European Way to Crime Drama“. Bild: Jochen Meißner. V.l.n.r.: Nathalie Biancolli (France Télevisions, Frankreich), Jeremy Howe (BBC, UK), Anna Croneman (SVT, Schweden), Takis Candilis (France Télévisions, Frankreich), Frank Seyberth (ZDF, Deutschland), Eleonore Andreatta (RAI, Italien), Paolo Conti (Moderation, Corriere della Sera, Italien). Bild: Jochen Meißner

Aber von der ARD saß niemand auf dem Podium in Rom. Stattdessen verteidigte Frank Seyberth, beim ZDF zuständig für internationale Koproduktionen von Filmen und Serien, die Programmierung des deutschen Marktführers, der täglich mindestens einen Krimi zeigt. Sei es Fernsehfilm oder Serienfolge. Vom Softcrime am Vorabend bis zu „Nordic Noir“ zur zweiten Primetime um 22.00 Uhr. Seyberth verteidigte beherzt das Prinzip „Same same but different“ – und zwar genau mit diesen Worten. Als einziger der Diskutanten hatte der ZDF-Mann eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet, wenn auch nur vier Folien. Dabei zeigte er eine Europakarte mit all seinen Kooperationspartnern von Island bis Italien; es blieben kaum weiße Flecke auf der Karte übrig. Dass Krimis, wie Seyberth anführte, ein „Fenster zur Welt“ seien, war natürlich auch nur eine Schutzbehauptung. Oder glaubt jemand tatsächlich, dass man zwischen Kopenhagen und Stockholm auf Schritt und Tritt über zerstückelte Mädchenleichen stolpert?

„Drehort geht vor Inhalt“

Stattdessen kann man bei den sich inflationär vermehrenden Hochzeiten deutschen Provinzialismus mit exotischen Schauplätzen von Bozen über Barcelona und Lissabon bis Istanbul kaum des Eindrucks erwehren, dass da nach der Maxime von Harald Schmidt, auch bekannt als Kreuzfahrtdirektor Oskar Schifferle auf dem ZDF-„Traumschiff“, gehandelt wird: „Drehort geht vor Inhalt.“

Lohnt es sich überhaupt, sich über die Monokultur des europäischen Krimis im linearen Fernsehen aufzuregen? Wahrscheinlich nicht, aber es muss trotzdem sein. Denn Fiktionen beeinflussen die Wahrnehmung von Realität. Bei der Vorstellung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik im April 2019 berichtete Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), dass trotz sinkender Kriminalitätsziffern das Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung gestiegen sei. Und das liegt nicht nur an den Eskalationsspiralen, die die Boulevardpresse immer höher dreht, sondern womöglich auch an den Erzählungen, mit denen die Gesellschaft sich selbst reflektiert. Wer wäre dafür mehr in die Pflicht zu nehmen als der öffentlich-rechtliche Rundfunk, den eben diese Gesellschaft finanziert.

Der Krimi ist das Glyphosat der Fernsehunterhaltung. Es ist hocheffektiv und wo man es versprüht, wächst kein Gras mehr. Jeder Krimisendeplatz verdrängt andere Formen des Erzählens. Dass der jahrzehntelange Einsatz toxischer Mittel Folgen hat, die ihren kurzfristigen Nutzen überwiegen, lernen wir gerade am Beispiel des Herbizids. Dass eine fast zehn Jahre alte dänische Serie wie „Borgen“ (deutscher Zusatztitel bei der Arte-Ausstrahlung: „Gefährliche Seilschaften“) immer noch beispielgebend für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen ist, ist ein Armutszeugnis für deutsche Programmplaner, die sonst alles kopieren, was irgendwo anders schon erfolgreich war. Angesichts ihres jährlich produzierten Programmvolumens bleiben die hiesigen öffentlich-rechtlichen Sender mit Serien, die für sich eine gewisse inhaltliche Relevanz beanspruchen, jedenfalls weit unter ihren Möglichkeiten. Wenige ambitionierte Serien wie „Weissensee“ (ARD) oder „Bad Banks“ (ZDF) sind immer noch die Ausnahme anstatt die Regel.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 22/2019

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