Das Leuchten in den Augen der Hörer

Beim Wettbewerb um das Hörspiel des Jahres 2016 dominieren Literaturadaptionen

Dass ein Hörspiel ebenso wenig Kino im Kopf ist wie ein Stummfilm Literatur für die Augen, hat sich weitgehend herumgesprochen. Jenseits dieser unzureichenden Beschreibung der Rezeption gibt es aber akustische Produktionen, die das Filmische auf eine neue Art denken und in die Köpfe ihrer Hörer versetzen. In der Stummfilmzeit erweiterten Filmpianisten das visuelle Erlebnis um ein akustisches. Außerdem gab es die Figur des Kinoerzählers, der narrativ entfaltete, was es zu sehen gab. Dass so eine Versprachlichung nicht zwangsläufig auf eine Verdopplung herauslaufen muss, konnte man im Hörspiel „Evangelium Pasolini“ hören (vgl. MK-Kritik).

Am 25. Februar 2017 wurde diese Produktion im Frankfurter Literaturhaus von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste als Hörspiel des Jahres 2016 ausgezeichnet. Auch in „Evangelium Pasolini“ gibt es einen Kinoerzähler. Es ist der Schriftsteller und Theologe Arnold Stadler, der in Oliver Sturms Hörspiel nach Pier Paolo Pasolinis Schwarzweißfilm „Il Vangelo Secondo Matteo“ („Das 1. Evangelium – Matthäus“) nicht nur die Audiodeskription übernimmt, sondern auch seine eigene Geschichte mit diesem Film und der brutalen Ermordung Pasolinis verkoppelt.

Das Sichtbare im Unsichtbaren

Filmplakat: Das erste Evangelium Matthäus (Hans Hillmann 1965)Es ist nicht das erste Hörspiel, das Oliver Sturm dem Kino gewidmet hat. Sein Stück „Minutentexte“ nach dem gleichnamigen Sammelband von Michael Baute und Volker Pantenburg, für den Kinointeressierte jeweils eine Minute aus dem Film „The Night of The Hunter“ von Charles Laughton im Wortsinne reflektierten, war eine gelungene Form der transmedialen Überhöhung seines Gegenstandes: vom Buch zurück zum Film und vorwärts zum Hörspiel (vgl. hierzu FK-Heft Nr. 51-52/08). Auch in „Evangelium Pasolini“, einer Koproduktion des Hessischen Rundfunks (HR) mit dem Deutschlandfunk (DLF), wurden zwei Kunstwerke zu einem dritten verschmolzen: Pasolinis Film aus dem Jahr 1964 und Stadlers Roman „Salvatore“ aus dem Jahr 2008. Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste würdigte dies in ihrer Preisbegründung so: „Die Aufgabe bestand mithin darin, die Medien Film und Literatur in das Medium Hörspiel zu überführen, den Sehsinn in den Hörsinn zu verwandeln, das Sichtbare im Unsichtbaren für die Einbildungskraft neu zu erschaffen. Dem Regisseur Oliver Sturm gelingt diese Transaktion, indem er auf den Schriftsteller und Sprecher Arnold Stadler setzt. Niemand könnte so authentisch wie der ehedem katholische Theologe und Priesterkandidat das ins – mit den Armen solidarische – Herz des Christentums zielende Werk eines überzeugten Kommunisten vergegenwärtigen.“

Was nun das spezifisch Filmische an seinem Hörspiel sei, beschrieb Regisseur Oliver Sturm in Frankfurt im auf die Preisverleihung folgenden Gespräch als mehrfache Brechung: Der Atheist Pasolini habe die Geschichte nicht eins zu eins erzählt, sondern durch Augen eines Gläubigen, der auf den Glanz in den Augen des Evangelisten Matthäus referiert. Die Bilder sähen wir durch den Glanz in den Augen des Dichters und Filmregisseurs Pasolini, der wiederum durch den Glanz in den Augen des Schriftstellers Arnold Stadler reflektiert wird. Dessen Hörspiel sei sozusagen ein dreifacher Abglanz und, so Sturm weiter, „die Reproduktion des Glanzes der Bilder in den Mündern der Erzähler“. Was, so möchte man hinzufügen, um das pan-optische Panorama abzurunden, ein Leuchten in den Augen der Hörer erzeugt.

Weniger dokumentarische Arbeiten

„Evangelium Pasolini“ war nicht das einzige Hörspiel aus dem 21-teiligen „Bibelprojekt“, mit dem der Hessische Rundfunk von November 2014 bis Dezember 2016 sein Radioprogramm angereichert hat. Auch Robert Wilsons Stück „Tower of Babel“ (HR/NDR/RBB/SWR/BBC) gehörte dazu und wurde wie „Evangelium Pasolini“ im Jahr 2016 als eines der Hörspiele des Monats ausgezeichnet. Der Unterschied zwischen den beiden Stücken könnte aber kaum größer sein. Verweben sich bei Stadler und Sturm die Erzählebenen und Diskurse mit­einander, so kennt Robert Wilson nur eine Methode: die ständige Überbietung in Form der Addition. Unverbundene Versatzstücke des abendländischen Kanons werden aufeinandergestapelt und bilden die Mauer eines unerträglich eitlen Gesamtkunstwerks, das auf nichts anderes verweist als auf sich selbst. Aber, und das muss man besonders hervorheben, es handelt sich um ein Originalhörspiel.

Die Literaturwissenschaftlerin und Feuilletonredakteurin Bettina Schulte („Badische Zeitung“), die im vorigen Jahr zusammen mit dem Kulturwissenschaftler Hansgeorg Schmidt-Bergmann und dem Komponisten Ludger Brümmer die dreiköpfige Jury der Akademie der Darstellenden Künste bildete, bemängelte in ihrem Rückblick auf das Hörspieljahr 2016, dass ein zu großer Teil der eingereichten Hörspiele auf literarischen Vorlagen basierte. Es solle nicht die Hauptaufgabe des Hörspiels sein, Literatur zu adaptieren, meinte sie, „weil innova­tive Formate nur wenig entstehen können, wenn die Literatur das primäre Medium ist“. Das hat die Jury aber nicht daran gehindert hat, diverse Romanadaptionen jeweils als Hörspiel des Monats auszuzeichnen. So zum Beispiel „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ (BR) von Frank Witzel, „Eugénie Grandet“ (Deutschlandradio Kultur), eine dreiteilige Hörspielfassung des Romans von Honoré de Balzac aus dem Jahr 1834, oder den Sechsteiler „Manhattan Transfer“ (HR/DLF) nach dem Roman von John Dos Passos aus dem Jahr 1925.

Eine gewisse Rückwärtsgewandtheit

Hinzu kamen noch ein paar Hörspiele, die auf Theatertexten basierten, angefangen bei einer Neuinterpretation von Schillers „Kabale und Liebe“ („Lila und Fred“ von Cristin König für Deutschlandradio Kultur) über „Normalverdiener“ (BR) von Kathrin Röggla bis zu „Krieger im Gelee“ (Deutschlandradio Kultur) von Claudius Lünstedt. Die Entscheidungen der Jury sind durchaus zu rechtfertigen, weil sie den State of the Art der akustischen Narration abbilden. Bis auf das Reenactment-Experiment „Ich dachte in Europa stirbt man nie“ (RBB) von Sarah Schreier und Alfred Behrens waren dokumentarische Arbeiten, die in den vergangen Jahren das Hörspiel geprägt hatten, 2016 nur selten vertreten.

Doch auch in anderer Beziehung stellten die Juroren eine gewisse Rückwärtsgewandtheit und Mutlosigkeit fest. In musikalischer Hinsicht vermisste der Juror und Komponist Ludger Brümmer in den Hörspielproduktionen des vergangenen Jahres „eine fordernde Klanglichkeit“ und diagnostizierte, dass „eine Musiksprache, wenn sie da war, doch sehr klar funktional war“ – ein vernichtendes Urteil. Die eher laut- als wortbasierte DADA-Radio-Oper „Gadji Beri # 2016“ von Wittmann/Zeitblom (vgl. MK-Kritik) war hier die Ausnahme von der Regel und stand auch für die Wahl zum Hörspiel des Jahres in der engeren Wahl. Außerdem zeigt sich in diesem Stück – einer Koproduktion von DLF, NDR, SWR und WDR – eine nicht-museale Art der Verarbeitung seines Stoffes zum 100-jährigen DADA-Jubiläum. Trotz dieser grundsätzlichen Erwägungen sind Originalhörspiele, die den Hör-Raum notwendig brauchen und außerhalb dessen gar nicht existieren könnten, bei den Jury-Entscheidungen unberücksichtigt geblieben. Das Hörspiel „Ein verrauchtes Idyll“ (HR) von Robert Schoen oder die akustische Vermessungsreise „Felicità“ (SR/Deutschlandradio Kultur) vom Liquid Penguin Ensemble sind bei den monatlichen Wahlen leider leer ausgegangen. Dafür haben es aber die Soundkomposition „In Darkness let me dwell – Lieder aus der Finsternis“ (DLF/HR) vom Kölner Duo Merzouga und „Manifest 50 – Du darfst mich töten, wenn du mich liebst“ (HR), ein Stück der österreichischen Hörspielmacherin und Performance-Künstlerin Falkner, auf die Liste der Hörspiele des Monats geschafft.

Insgesamt standen der Jury im vorigen Jahr 102 Hörspiele zur Auswahl – von 120 möglichen, die die zehn Hörspielabteilungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in den zwölf Monaten zum Wettbewerb der Akademie einreichen können. Nachdem man im Jahr 2015 noch unter die Marke von 100 eingereichten Stücken gefallen war, hat es 2016 also eine Konsolidierung auf niedrigem Niveau gegeben. Erfreulich bleibt, dass sich beim Hörspielwettbewerb der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste eine kleinere (und nicht so finanzkräftige) ARD-Anstalt wie der Hessische Rundfunk mit einem anspruchsvollen Programm besonders profilieren konnte.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 6/2017

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