Das hat dir der Ludwig gesagt

Ulf Stolterfoht / Thomas Weber: ein strumpf wächst durch den tisch

SWR 2, Di 02.07.2019, 23.03 bis 23.49 Uhr

Auf der Webseite des SWR-Hörfunks soll man eine Kritik zu Ulf Stolterfohts aktuellem Lyrikband „Fachsprachen XXXVII-XLV“ hören können. Doch nach der Ansage des Formattitels („SWR 2 Lesenswert“) gibt es nur ein abgehacktes digitales Klirren, das nach nicht einmal 20 Sekunden abbricht. Offenbar ist die digitale Technik überfordert, was auf den Hörfunk-Webseiten des SWR zwar keine Seltenheit ist, hier aber einen metaphorischen Mehrwert erzeugt. Denn die digitale Kapitulation erscheint seltsam angemessen gegenüber den Texten des 1963 in Stuttgart geborenen und in Berlin lebenden Autors, die fast immer eine lustvolle Überforderung darstellen.

So ist auch Stolterfohts erstes Hörspiel „ein strumpf wächst durch den tisch“, das er zusammen mit Thomas Weber, dem Gründer des Kammerflimmer Kollektiefs, für den „Ars-acustica“-Termin von SWR 2 produziert hat, eine Überforderung. Natürlich ruft der Titel eine Assoziation an Kaiser Barbarossa hervor, dessen Bart durch den Tisch in seiner Höhle unter dem Kyffhäuser gewachsen ist. Doch die kontaminierte Metapher stammt aus Texten der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: „UNSERE erklärung, sone art strumpf, den die gefangenen von prozeß zu prozeß stricken, an ihrem lernprozeß, ihrer connection / bis naja / er durch den tisch gewachsen ist…“, schreibt der RAF-Anführer Andreas Baader im April 1976 in einem Kassiber an seine Mitgefangenen.

Statt um einen natürlichen Wachstumsprozess geht es um die kollektive Verfertigung eines Gewebes. Unter den prekären Knastbedingungen muss für die Werkzeuge der Sprache ein notdürftiger Ersatz gefunden werden. Auf Verben wird oft verzichtet, auf eine korrekte Grammatik auch. Jedenfalls macht es diesen Eindruck, wenn man die hermetischen Sätze hört, die von einem Kreis der Eingeweihten verstanden werden sollten, um das Netz zwischen ihnen zu verstärken. Kommuniziert wird in Codes einer Fachsprache, die heute, 40 Jahre später, kaum noch verstanden wird. Im Hörspiel wird sie durch die Stimmen von Kathrin Wehlisch und Markus Meyer unter der Regie von Iris Drögekamp und Thomas Weber verständlich, ohne ihre Fremdheit zu verlieren.

Ulf Stolterfoht geht es also nicht darum, ein Dechiffriersyndikat zu gründen, sondern darum, die sprachlichen Bedingungen des Sprechens und Schreibens der RAF zu analysieren. „Den sinn eines satzes verstehen heißt, wissen wie die entscheidung herbeizuführen ist, ob er wahr oder falsch ist“, so lautet der erste Satz des 46-minütigen Hörspiels. Er stammt von RAF-Mitglied Gudrun Ensslin, die hier auf den „Tractatus logico-philosophicus“ des Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein Bezug nimmt und dessen These 4.024 – „Einen Satz verstehen, heißt wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist“ – eine dezisionistische Komponente hinzufügt. Ensslin macht dies sozusagen zu einer Machtfrage.

Wittgenstein ist denn auch der prominenteste Zaungast in Stolterfohts Hörspiel. Er kommt nicht nur in der Abstraktion des „Tractatus“ vor, sondern auch in der Konkretion der Reflexionen über die Unkommunizierbarkeit des Schmerzes aus Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“: „Nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der andere kann es nur vermuten […] Wenn ich sage, ‘Ich habe Schmerzen’, bin ich jedenfalls vor mir selbst gerechtfertigt.“ Die Verbindung zwischen dem frühen und dem späten Wittgenstein sind die „Dinge“, in die die Welt zerfällt und die als „verdinglichung, verdringlichung, erzwinglichung“ das Leben der Gefangenen dominieren. „Von der verdinglichung reden, heißt von uns reden“, zitiert Stolterfoht aus einem anderen Kassiber der RAF.

Es ist aber nicht nur die sprachliche oder sprachphilosophische Ebene, auf denen das Stück spielt. Die isolierten Haftzellen werden mit einer Geschichte verknüpft, die ebenfalls in einer geschlossenen Kammer spielt. Im Märchen vom Rumpelstilzchen, das Jakob Grimm aufgeschrieben hat, geht es sowohl um die ursprüngliche Kapitalakkumulation durch krude Ausbeutung als auch um die (Selbst-)Befreiung des Mädchens, das Stroh zu Gold spinnen musste, durch einen sprachlichen Benennungsakt. Doch bis dahin müssen im Märchen wie im Hörspiel viele Namen ausprobiert werden. In Stolterfohts Hörspiel stammen sie ebenso aus dem Grimmschen Märchen wie aus dem Roman „Moby Dick“ und den RAF-Fahndungsplakaten der Polizei. War im Ankündigungstext des SWR zu dem Hörspiel noch die Pointe „Das hat dir der Ludwig gesagt“ zu lesen, so hat es diese nicht aus dem Hörspielmanuskript in die fertige Produktion geschafft. Offenbar traut man der befreienden Kraft des Benennens nicht mehr.

Falls das digitale Klickern, das beim SWR den Audiofile der Rezension des Gedichtsbandes von Ulf Stolterfoht überschrieben hat, kein zufälliger Defekt ist, sondern die Kritik in einem subversiven Akt vorsätzlich zerstört wurde, dann könnten die Geräusche vom Kammerflimmer Kollektief komponiert worden sein. Das hat schon vielen Hörspielen von Dietmar Dath eine musikalische Form gegeben. Anders als in dem Debütstück von Paul Plamper und Alban Rehnitz „(schreibt auf. unsere haut.) – Projekt RAF“, das sich vor genau 20 Jahren schon einmal mit den Kassibern der Rote Armee Fraktion beschäftigte (vgl. FK 42/99), verzichten Thomas Weber und sein Kammerflimmer Kollektief aber weitgehend auf eine popkulturelle Rhythmisierung der RAF-Texte. Das Stück bleibt auf das Aufschreibesystem RAF konzentriert, das in Ulf Stolterfohts Hörspiel in einen systematischen, sprachlichen und literaturgeschichtlichen Kontext gestellt wird. In der Überlagerung von Textkörper, Stimme und Musik stellt das Hörspiel dafür die ideale Form dar.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 17/2019

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