Das durchgeknallte Hörspiel

Endlich wieder im Radio:

Matthias Schamp: Der Aufstand in den Sinnscheiße-Bergwerken

WDR Eins Live, Sa 10.4.2007, 23.00 bis 0.00 Uhr

2006 scheint das Jahr des durchgeknallten Hörspiels gewesen zu sein: Felix Kubin verwandelte mit „Orpheus’ Psykotron“ Dino Buzzatis Variation des Mythos in eine Posse mit Gesang (BR/Bayern 2 Radio, 8.12.06), Eugen Egner schickte in „Was macht eigentlich Harry Absolut?“ (WDR Eins Live, 29.8.06) eine Art Alice in das Wunderland des Inneren einer Musikaufnahme und Till Müller-Klugs Hörspiel „Die neue Freundlichkeit“ (WDR 3, 15.5.06) spielte in einem Arbeitsamt, in dem Jobs für 20 Minuten (mit Verlängerungsmöglichkeit) vermittelt werden. Gemeinsam ist diesen Stücken, dass sie erstens in einer Parallelwelt spielen, die sich zur realen in etwa so verhält wie „Kottan ermittelt“ zu einem normalen „Tatort“, zweitens, dass in ihnen gerne gesungen wird (Lars Rudolph in „Orpheus’ Psykotron“, Bernadette La Hengst in „Die neue Freundlichkeit“), und dass sie, drittens, gut für den Serotoninspiegel der Hörerschaft sind.

Auch das jetzt von der WDR-Jugendwelle Eins Live urausgestrahlte Hörspieldebüt „Der Aufstand in den Sinnscheiße-Bergwerken“ des 1964 geborenen Konzeptkünstlers Martin Schamp macht glücklich – und es führt die Tradition des durchgeknallten Hörspiels, das es noch nicht zu einer eigenen Kategorie gebracht hat, im Jahr 2007 weiter.

Unter Blut, Schweiß und Tränen wühlen sich die Kumpels in Schamps Hörspiel in die Erdkruste, um jenen Stoff zu Tage zu fördern, aus dem buchstäblich alles hergestellt wird: Sinnscheiße. Wenn aber der ganze Planet aus Sinnscheiße besteht, warum macht man sich dann die Mühe, aus der Tiefe zu holen, was an der Oberfläche im Überfluss herumliegt? Diese durchaus berechtigte Frage wird Proto (Marc Hosemann) von einer namenlosen Tapirschattennäherin (sehr süß: Mira Partecke) gestellt. Proto („Ich bin der Protagonist!“) macht sie sich zu eigen, was schließlich zum Aufstand in den Sinnscheiße-Bergwerken führt. Der Rohstoff dieser Welt bekommt seinen (Mehr-)Wert nämlich erst durch die Arbeit, die in ihn hineingesteckt wird. Kein Wunder, dass sich Widerstand regt gegen eine Welt, die nur aus Sinnscheiße und Ausbeutung besteht. Als die Figur der Mira Partecke zum ersten Mal einen Tapirschatten nach eigenem Entwurf näht, ist Schluss mit der Sinnscheiße. Denn der Schatten wirft einen Tapir (und nicht etwa umgekehrt) – und der besteht nicht etwa aus Sinnscheiße, sondern aus etwas Neuem: Metaphysik.

„Sinn“, so kann man in einem Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme lesen, „ist das Medium, das die selektive Erzeugung aller sozialen und psychischen Formen erlaubt“ – und dies erfordert, könnte man mit Matthias Schamp ergänzen, denn jede Form ist ein Produkt und braucht einen Produzenten, auch Tapirschatten. „Der Sinn“, so heißt es bei Luhmann weiter, „ist eine evolutionäre Errungenschaft der sozialen und psychischen Systeme, die deren Selbstreferenz und Komplexitätsaufbau Form gibt.“ Jenseits der Sinnscheiße verliert die Welt ihre Form, will heißen: Im Hörspiel verliert das Hochhaus des ausbeuterischen Chefs (dessen willfähriger Knecht natürlich nicht anders heißen kann als Hegel) seine Konsistenz, und seine Komplexität wird zu einem suppigen Brei reduziert. Nur kurz kann sich das System noch einmal stabilisieren, bevor am Horizont eine ganze Herde metaphysischer Tapire auftaucht, um es zu überrennen.

Regisseurin Beate Andres hat zusammen mit dem holländischen Elektronik-Duo Coolhaven ein wunderbar komisches Stück gebaut, in dem die Bergwerksarbeiter mit lustlos verschlepptem Rhythmus ihr Arbeitslied singen und auch die Tapirschattennäherin ihre Solonummer bekommt. „Der Aufstand in den Sinnscheiße-Bergwerken“ erzählt eine sehr abgedrehte Liebes- und Sozialgeschichte, die auch funktioniert, wenn man sie ohne den Luhmannschen Subtext hört. Aber mit ihm macht sie natürlich noch mehr Spaß.

Montag, 14. Oktober 2013, 23.05 – 00.00 Uhr im WDR 3 (open: pop drei)
Dienstag, 15. Oktober 2013, 23.00 – 00.00 Uhr in 1LIVE (1LIVE Soundstories)

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 16/2007

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