Untoter Wiedergänger

Schorsch Kamerun: Kann mir nicht vorstellen, dass es weitergeht

WDR 3 Mo 10.12.2012, 23.05 bis 23.55 Uhr / WDR 1Live Di 11.12.2012, 23.00 bis 23.50 Uhr

„Lonesome George“ ist tot. Am 27. Juni dieses Jahres ging die Meldung durch die Zeitungen, dass der letzte Vertreter einer Riesenschildkrötenart auf dem Galápagos-Archipel das Zeitliche gesegnet hatte. Damit ist „Lonesome George“ dem Weltuntergang, den wir laut Maya-Kalender ja am 21. Dezember zu erwarten haben, zuvorgekommen. Außerdem verpasste er die zu diesem Anlass vom WDR programmierte achtteilige Hörspielreihe zum Thema „Ende“, deren Auftakt am 10. Dezember das 50-minütige Hörspiel „Kann mir nicht vorstellen, dass es weitergeht“ von Schorsch Kamerun bildete. In Kameruns kriegsblindenpreisgekröntem Hörspiel „Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt“ (vgl. FK 39/06) war „Lonesome George“ als kontemplativer Gegenpol zum westlichen Selbstoptimierungswahn aufgetaucht – natürlich mit der vorgeschriebenen ironischen Brechung.

Schorsch Kameruns aktuelles Hörspiel knüpft motivisch genau da an, wo er mit dem „Menschenbild“ vor sechs Jahren aufgehört hat. Als Mittel gegen die Selbstökonomisierung, die sich im „Aufschichten von immer mehr Alleinstellungsmerkmalen“ manifestiert, wird ein „Demotivationstraining“ empfohlen. Martin Reinke als frustrierter Angestellter, ein Anhänger und Abhängiger von To-do-Listen, bemerkt plötzlich, dass die Melancholie die aktuell vorherrschende Stimmung ist. Was im „Menschenbild“ als globale Verweigerungshaltung unter der Chiffre „No Input“ zusammengefasst wurde, heißt jetzt „No Info“ und impliziert dasselbe, nämlich den Wunsch, nicht mehr von den Zumutungen der Welt belästigt zu werden – was „Lonesome George“ so vorbildlich vorgelebt hatte.

Über einen „No-Info“-Button gelangt man übrigens auch auf die Website von Schorsch Kamerun. Da mutet es geradezu paradox an, dass der WDR zu der Hörspielreihe extra eine App für Android und iPhone aufgelegt hat, die dem Nutzer auch Push-Mails rüberschiebt, wenn er es denn zulässt. Von dieser zusätzlichen Penetration der Mediensphäre des Hörers profitiert eine kulturkritische Entschleunigungsindustrie, die uns, also die gestressten Unternehmer unserer selbst, wieder für den Existenzkampf fit macht.

Dazu gehört wohl auch, dass die öffentlich-rechtlichen Sender im Fernsehen ihre Aussteuerungspegel angeglichen haben. Keine Unterbrecherwerbung macht mehr mit geballter Lautheit auf sich aufmerksam, nicht einmal ein Senderwechsel soll den Fluss der gleichförmigen Berieselung stören. Die Limiter der Sendetechnik filtern die Pegelspitzen heraus und ein Freund des Megaphons wie Schorsch Kamerun nimmt das natürlich als Einschränkung wahr. Doch solche Beobachtungen sind die Ausnahme in Kameruns gewohnt sprunghaft inszeniertem Hörspiel. Im Wechsel von klaren Ansagen, improvisiert wirkendem Sich-um-Kopf-und-Kragen-Reden und schönen Pop-Songs ähnelt das Stück strukturell stark seinem Vorgänger. Doch leider ist Kameruns aktuelles Hörspiel als untoter Wiedergänger des „Menschenbilds“ zurückgekehrt. Der Titel „Kann mir nicht vorstellen, dass es weitergeht“ ist insofern programmatisch, als dass es ja seit 2006 nicht wirklich weitergegangen ist, sondern Kamerun sich offensichtlich in einer Wiederholungsschleife wähnt – was auch auf Kosten der Vitalität der neuen Produktion geht.

Wurde vor sechs Jahren noch „der Ausgang aus der unentschuldigten Unmündigkeit“ gefordert, hört man jetzt einen ohrwurmhaften Song, dessen Refrain so beginnt: „Unabhängigkeit ist keine Lösung für moderne Babys / Sie wissen nicht, wie man freien Geist benutzen kann.“ In Kameruns Hörspiel hat das Ende schon stattgefunden. Soll man ihn sich in Zukunft als einen an der „Zivilisationskrankheit“ Leidenden vorstellen, wie Ernst Jünger, Heiner Müller und Konsorten, die um das Ende der Utopien wussten und sie dennoch zu befeuern versuchten? In Heiner Müllers Beschreibung oszillierten die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Vampirismus und Kannibalismus. Bei Schorsch Kamerun sind die Menschen Vampire und Lamas: saugend und spuckend zugleich. Keine schöne Vorstellung.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 50/2012

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