Über Generationen hinweg

Die österreichischen Hörspieltage 2016 in Berging

Einer der Vorzüge der Hörspieltage, die seit mehr als 40 Jahren alljährlich um Christi Himmelfahrt vom österreichischen Verband der Dramatikerinnen und Dramatiker veranstaltet werden, ist, dass es sich um ein unkuratiertes Treffen handelt. Seit zwölf Jahren findet die Tagung in der Villa Berging im gleichnamigen Ortsteil der niederösterreichischen Gemeinde Neulengbach statt. Eingeladen werden keine Hörspiele, sondern profilierte Autoren, Regisseure, Komponisten und Dramaturgen aus allen deutschsprachigen Ländern, die fertige Produktionen oder noch im Entstehen befindliche Projekte präsentieren. Dadurch dass die Auswahl der Stücke den Beteiligten überlassen ist, bekommt man immer auch das in den Blick, was gegenwärtig relevante Themen sind.

Kam im vergangenen Jahr kaum ein Stück ohne religiösen Bezug aus, so war es in diesem Jahr das Generationenthema, das sich durch etliche der insgesamt 17 langen und sieben kurzen Stücke sowie die vier Lesungen zog, die in den vier Tagen vom 4. bis zum 8. Mai diskutiert wurden. Manchmal wurde das Thema schon im Titel explizit, wie etwa in Barbara Kennewegs inszeniertem Feature „Der Krieg der Söhne“. Das Stück schildert, wie der Nachwuchs sich in den virtuellen Welten von Computerspielen verliert und dabei, wie man es auch von anderen Suchterkrankungen kennt, das reale Leben vor die Hunde geht. Das war manchmal etwas klischeehaft erzählt, für größere Irritationen sorgte jedoch die Frage, wo in dieser von der Autorin selbst realisierten RBB-Produktion die Wirklichkeit aufhörte und die Inszenierung begann.

Uraufführungsort

Eine Überdosis Realität lieferte dann Andreas Jungwirths literarisches Hörspiel „Langholzfeld“, in dem der Vater des Erzählers stirbt. Unschwer konnte man in der Figur des Sohnes den Autor erkennen, was bei einigen Diskutanten verständlicherweise die Bereitschaft zur Kritik hemmte – auch wenn man sonst in Berging im professionellen Austausch kein Blatt vor den Mund nimmt. Parallel zur eigenen Geschichte erzählte Jungwirth in seinem Stück, einer Koproduktion von Deutschlandradio Kultur und Österreichischem Rundfunk (ORF) unter der Regie von Harald Krewer, von der Transformation der Siedlung Langholzfeld, in die immer mehr Türken ziehen, die andere Familienstrukturen mitbringen.

Reale O-Töne aus dem sogenannten „Halbmondlager“, in dem im Ersten Weltkrieg mehr als 30.000 Kriegsgefangene interniert waren, verwendete Robert Schoen für sein neues Hörspiel „Die verlorenen Söhne“. Wilhelm Doegen, Chef der Preußischen Phonographischen Kommission, machte damals von den Internierten Tonaufnahmen, die später den Grundstock des Berliner Lautarchivs bilden sollten. Als gegenwärtiger verlorener Sohn fungiert in dem Stück Lorenz Eberle, mit dem zusammen Schoen 2011 für „Schicksal, Hauptsache Schicksal“ den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewonnen hat (vgl. FK-Heft Nr. 11/11). Eberles verschleppte Art der Artikulation wird im Hörspiel von einem Phonologie-Professor analysiert. Das Motiv des schon aus der Bibel bekannten verlorenen Sohns wird hier in seiner artikulatorischen Dimension in Sprache und Musik verfolgt. Wie schon im letzten Jahr nutzte Robert Schoen Berging wieder als Uraufführungsort. Sein Hörspiel „Die verlorenen Söhne“ wird erst Anfang 2017 im Programm des Hessischen Rundfunks (HR) urgesendet.

Hochdruckdramatik

Hugo Rendler, einer der produktivsten Hörspielautoren, war diesmal in Berging gleich mit zwei Stücken vertreten. Die neunminütige SWR-Produktion „Der Zitterer“ entstand im Rahmen eines Projekts der europäischen Rundfunkunion EBU anlässlich des 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. In einem intensiven Monolog erinnert sich eine alte Frau an die Traumatisierung ihres Vaters durch den Krieg und an die Konsequenzen, die diese Traumatisierung noch Jahre später hatte. Noch eindrücklicher war allerdings Rendlers alemannischer Monolog „Ewigs Gwind“. Diese SWR-Produktion aus dem Jahr 2013 beweist, dass mundartliche Hörspiele nicht tümlich sein müssen, sondern auch den blanken Horror transportieren können. Hugo Rendler hat selbst in der Psychiatrie gearbeitet und weiß um die Funktion des titelgebenden „ewigen Gewindes“. Es handelt sich um den als Endlosgewinde ausgeführten magnetischen Verschlussmechanismus eines Bauchgurtes, mit dem psychisch Erkrankte fixiert werden. Rendlers Monolog, gesprochen von Martin Schley, gibt dem Begriff Psychogramm eine ganz neue Bedeutung.

Situationen, in denen auf die Figuren (und die Hörer) maximaler Druck ausgeübt wird, sind die Spezialität von Michaela Falkner, die unter dem mit Majuskeln strotzenden Namen FALKNER Texte verfasst, die allesamt als Manifeste etikettiert und durchnummeriert sind. Erstmals hat sie nun eines ihrer Manifeste aus der Hand gegeben und die Nummer 49, „Draußen unter freiem Himmel“, von Hannah Georgi für den WDR als Hörstück inszenieren lassen. Unter FALKNERs freiem Himmel verschwinden Plätze und ganze Straßenzüge, während die Hauptfigur Ida von ihrem Freund in der Wohnung eingesperrt wird – selbstverständlich nur zu ihrem Schutz. Die Welt ist aus den Fugen und natürlich wird es böse enden.

Eine ähnliche Tendenz zur monologischen Hochdruckdramatik wie bei FALKNER kann man auch Sibylle Bergs Theatertext „Und jetzt: Die Welt!“ attestieren. Und das nicht nur deshalb, weil Marina Frenk in der Hörspielfassung allein alle vier Figuren spricht und außerdem die musikalische Realisation übernommen hat. „Und jetzt: Die Welt“ wurde mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden 2016 ausgezeichnet und Frenk wurde dabei von der Jury verdientermaßen zur Miturheberin des Stücks erklärt (vgl. MK-Artikel). Ein klein wenig ungerecht ist das gegenüber dem Regisseur Stefan Kanis, der mindestens den gleichen Anteil an der Urheberschaft dieses Stücks beanspruchen kann wie die Autorin und die Schauspielerin. In Berging wurde Kanis mit einem „Szlabbesz“ bedacht, dem undotierten Preis der Tagung, mit dem die Kolleginnen und Kollegen ihre Anerkennung ausdrücken. („Szlabbesz“ ist ein Phantasiename für diese Auszeichnung, ausgesprochen wird sie „Schlabbes“.)

Ein großartiges Forum

Einen weiteren Szlabbesz gab es für die SWR-Produktion „Die lächerliche Finsternis“. Das Stück von Wolfram Lotz zählte zu den drei Finalisten beim diesjährigen Hörspielpreis der Kriegsblinden; mitgebracht nach Berging hatte es Leonhard Koppelmann, der Regisseur dieses Hörspiels. Ob der komplexen Erzählstruktur und der sorgfältig ausgebauchten akustischen Welten lag „Die lächerliche Finsternis“ in der Gunst der Tagungsteilnehmer noch knapp vor der konsequenten Linearität von Sibylle Berg.

Vom studentischen Nachwuchs, der sich seit drei Jahren in Berging präsentieren darf, fiel besonders die Sprachkomposition „Tunar“ von Christoph Höfferl auf, der aus einem kurzen rätoromanischen Gedicht ein Soundstück gemacht hatte – eine sonst unterrepräsentierte Gattung bei den Hörspieltagen. Wieder dabei war Anna-Sophie Fritz mit der zweiten Folge ihrer Hörspiel-Comicfigur „Random Dudette“, jener Superheldin, deren Taten eher unauffällig daherkommen. Diesmal wird sie als die Verantwortliche enttarnt, die stets einzelne Socken aus der Waschmaschine verschwinden lässt – und zwar deshalb, weil sie damit rechtspopulistischen Schreihälsen das Maul stopft. Die Abenteuer von Random Dudette kann man auf YouTube bewundern, wobei die ironisch-amateurhaften Zeichnungen von Klara Lebloch immer erst entstehen, nachdem das jeweilige Hörspiel fertig ist.

Im letzten Beitrag der diesjährigen Hörspieltage in Berging schien das Generationenthema wieder auf. Steffen Thiemann las seinen Text „Ich tanzte wie gewöhnlich“, und als nach der für 20 Minuten angesetzten Lesung bereits 40 ungemein kurzweilige Minuten vergangen waren, wusste man, dass man diesen Text unbedingt als Hörspiel hören will. Denn was da eine Altersheiminsassin ihrem Tagebuch anvertraut oder im Dialog mit einem vorlauten Kasper aus dem Fernsehen sagt, ist in den Tonlagen so variabel, komisch und welthaltig zugleich, dass sich jede Schauspielerin und jeder Schauspieler danach die Lippen lecken müssten. Auch für solche Projekte sind die Hörspieltage in Berging ein großartiges Forum, das man erfinden müsste, wenn es diese Veranstaltung nicht schon gäbe.

Jochen Meißner — Medienkorrespondenz 13/2016

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