Nicht-orientierbare Flächen oder Die Abschaffung der Begriffe

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. 12-teiliges Hörspiel

Bayern 2, sonntags 30.1.2011 bis 17.4.2011, jeweils 15.00 bis 15.55 Uhr

Mit welchen Verstehenswerkzeugen, hat (sich) der Hörspielbearbeiter und Regisseur Ulrich Lampen gefragt, soll man sich einem Buch voller verquerem und disparatem Wissen nähern? Seine Antwort: „Klugheit und Bildung helfen und führen auf Abwege.“ Da es Lampen aber offensichtlich gelungen ist, die 550 Seiten von Dietmar Daths Roman „Die Abschaffung der Arten“ in 640 Minuten Hörspiel zu transformieren, muss es ein paar Haken gegeben haben, mit denen der dreidimensionale Buchblock/die zweidimensionale Buchseite/die eindimensionale Textzeile in das zeitbasierte Medium Radio herübergezogen werden kann. Diese Haken sind die Ordnungsprinzipien, nach denen Dietmar Dath die Gattungs- und Gesellschaftsgeschichte einer ganzen Welt (und seinen Roman) organisiert hat: die Biologie, die Mathematik, die Musik und die Sprache.

Vordergründig beginnt der Roman 500 Jahre nach der „Zeit der Langeweile“, will heißen: nach dem Menschen. Nur noch Restbestände dieser degenerierten Überaffen werden von den sogenannten Gente bekämpft. Gente – diese Bezeichnung vereinigt die Begriffe „Gene“, „Gender“ und „gente“ (italienisch für „Leute“) aufs Intimste – sind genetisch rekombinierte Geschöpfe (sprachbegabte Wölfe, Luchse, Dachse, Libellen etc.) unter Führung des Löwen Cyrus Golden. Doch auch die sind bedroht von den Keramikanern, einer Art reproduktionsfähiger Maschinenzivilisation, die Zugang zu höheren Dimensionen jenseits des dreidimensionalen euklidischen Raums hat und die die Gente zum Exodus auf Mars und Venus zwingt. Deren Nachkommen kehren nach Äonen wieder auf die Erde zurück, nachdem die Keramerikaner ihre Expansion abgeschlossen und den Planeten zu einem Denkmal ihrer selbst gemacht haben. In einem Gespräch mit der Dramaturgin Katarina Agathos vom Bayerischen Rundfunk (BR), in dessen Auftrag das Hörspiel produziert wurde, hat Dath verraten, dass die Keramerikaner eigentlich für das Geld stehen – aber man soll Autoren auch nicht alles glauben, was sie über ihre Werke sagen. Und Anti-(Ker-)Amerikanismus scheint im Stammhirn eines linken Intellektuellen sowieso genetisch fest verdrahtet zu sein.

Den überbordenden Figurenreichtum und dem auf Vervielfältigung der Kontexte angelegten Opus magnum von Dietmar Dath kommt man am ehesten bei, wenn man die von ihm angebotenen Deutungsmuster ernst nimmt. Für die biologische Sphäre ist das natürlich die Darwinsche Evolutionstheorie, aber auch der merkwürdige Lebenszyklus des Schleimpilzes Dictyostelium discoideum. Diese Einzeller vereinen die Eigenschaften von Tieren und Pilzen, gehören jedoch zu keiner der beiden Gruppen. Bisweilen bilden sie sogar schneckenähnliche, mehrzellige Verbände (sogenannte Pseudoplasmodien, auch „soziale Amöben“ genannt). Für einen poststrukturalistisch sozialisierten Intellektuellen ist das eine großartige Metapher für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.

Ebenfalls metaphorischen Wert hat die posteuklidische Mathematik, die mit höheren Raumdimensionen rechnet, als sie der menschlichen Erfahrungswelt zugänglich sind. Möbius-Bänder und Kleinsche Flaschen besitzen nur eine Seite, die gleichzeitig innen und außen ist. Sie sind sogenannte „nicht-orientierbare Flächen“ – metaphorisch gesprochen scheinen sie einen höheren Freiheitsgrad zu haben als Dreiecke oder Würfel, mathematisch ist das natürlich Unsinn.

Bei Dath werden die Begriffe als Begriffe abgeschafft und als Metapher wiedergeboren. Aber der Suhrkamp-Verlag und der Bayerische Rundfunk beschäftigen Dietmar Dath ja nicht als Biologen oder Mathematiker, sondern als Schriftsteller. Und in seiner künstlerischen Verdichtung liegt zweifellos die Stärke des Romans und seiner Hörspielbearbeitung. Denn die von Dath postulierte „inferenzielle“ Sprachtheorie, die Bedeutung als eine Folge von logischen Schlüssen betrachtet, verträgt sich nicht nur mit dem Gedanken der Evolution, sondern wird gleichsam im Vollzug expliziert.

Der Perspektivwechsel, der Interaktionsbruch, die Zerstörung funktionierender erzählerischer Abläufe, kurz: der „Bruch der logischen Geographie des sozialen Alltags“ (Dath) zieht sich durch den ganzen Roman. Was ihn dennoch zu einem geschlossenen Ganzen macht ist die Musik: Als Roman ist der Text in die Form einer viersätzigen Sonate gegossen, als Hörspiel hält ihn der Soundtrack des Elektronik-Duos Mouse on Mars zusammen, der mal insektoid-zirpend, mal mechanistisch-destruktiv den Text untermalt. Eine Musik, die fast immer da ist, ohne sich allzu sehr aufzudrängen, ein Sound von Gleichförmigkeit und Variation – wie die Evolution selbst. Das Hörspiel „Die Abschaffung der Arten“ ist bei Intermedium Records/Strunz auch auf CD erschienen und als 100-minütiger „Shortcut“ im BR-Hörspielpool herunterladbar.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 14/2011

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