Laudatio auf „ICKELSAMERS ALPHABET“ – das Hörspiel des Jahres 2014

Von Wolfgang Hegewald

Das Hörspiel, das wir heute loben und preisen, erscheint als ein eigensinniger Einzelgänger in der Hörspiellandschaft von 2014, als ein Solitär, ein klingender Mondstein. Es ist keiner Motiv- oder Themengruppe zuzuordnen; es läßt sich weder vom Terror der Aktualität einschüchtern noch versucht es, aus der Konjunktur historischer Jubiläen aufmerksamkeitsökomischen Profit zu schlagen. Scheinbar weltfremd und zeitvergessen zettelt es ein wundersames Spiel mit Buchstaben, Tieren, den Befunden eines Grammatikers aus dem 16. Jahrhundert sowie denen seines französischen Kollegen und autobiografischen Vignetten Katharina Bihlers an. Der Versuch, diesem Hörspiel mit einem plot oder einer Nacherzählung beizukommen, vergröberte unweigerlich, was einem da zu Ohren kommt. Vielleicht könnte ich von einem akustischen Hologramm sprechen, das seine ästhetischen Wirkungen mit illusionistischer Gegenständlichkeit erzielt. Die einzige taugliche Methode, eine kleine Laudatio auf dieses Hörspiel zu halten, scheint mir zu sein, dass ich Ihnen, verehrtes Auditorium, für ein paar Minuten Einblick in meinen Assoziationshaushalt gewähre. Mir wurde wunderbar mitgespielt. Ich spiele, hingerissen und begeistert, weiter.

Wo anfangen? Ich wähle die eigenwillige Variation des berühmten ersten Satzes aus dem Johannes – Prolog im gleichnamigen Evangelium: AM ANFANG WAR DER BUCHSTABE, und der Buchstabe ward Laut und wohnte in uns, im Palais unter der Gaumenkuppel. Von Friedrich Nietzsche, dem theologisch versierten, sprachmächtigen und sprachkundigen Philosophen, stammt der Hinweis, dass die Grammatik die eigentliche Schöpfungstatsache sei. Der Generator jeder möglichen Sprachwelt. In „Ickelsamers Alphabet“ treten die Buchstaben als das auf, was sie, im Englischen beispielsweise, ohnehin sind: als Charaktere. Ob launisch, bissig, knurrend, lächelnd, hauchend oder hingehaucht – was diese Buchstaben genannten Virtuosen, die Zauberkünstler in einem Variete namens Mundraum und Akrobaten in der Menagerie unter dem Schädeldach gemeinsam haben, ist ihre Begabung mit Musikalität. Das Hörspiel handelt nicht zuletzt vom Zwiespalt, in dem sich Buchstaben fortwährend befinden: Läse man einen Text Buchstabe um Buchstabe, so käme einem bald jeglicher Sinn und jede Bedeutung abhanden. Die Sinnlichkeit des Alphabets muß verschwinden, damit der Sinn und die Bedeutung hervortreten. So betrachtet, fristen die Buchstaben das Dasein notorischer Masochisten, opfern sich auf für die Sache des Sinns. „Ickelsamers Alphabet“ aber ist ein phantastisches Plädoyer für die akustische Materialität der Buchstaben. Die Lust an oralhaptischer Buchstabenerkenntnis, diese Formel bringt womöglich das zentrale Erzählinteresse des Hörspiels auf den Begriff. Ich könnte auch von einer akustischen Emanzipationsbewegung sprechen: der Entdeckung des Alphabets als Notenschrift-

Was ich an diesem Hörspiel unbedingt loben möchte, ist die Balance zwischen der staunenden Selbstvergessenheit eines Kindes, das spielend der akustischen Gegenständlichkeit der Buchstaben gewahr wird, und dem raffinierten ästhetischen Kalkül der Gesamtkomposition. An der Grenze von Tag und Traum, wenn das Hirnkästchen offensteht. Wer den von Buchstaben oder Buchstabenfolgen ausgelösten Assonanzen von Sätzen und Sprachbildern lauscht, die sich ganz auf ihren Klang verlassen, wer sich von Wortkaskaden bezaubern läßt, die von jeglichem Bedeutungszwang suspendiert sind, dem wird bald ein Umstand schmerzlich bewußt: Wir leben weithin unter grobmotorisch Alphabetisierten.

Aber wo sind inzwischen die Tiere geblieben, wo die autobiografischen Intarsien, von denen ich eingangs sprach?

Die Tiere finden wir, salopp und summarisch gesprochen, im Naturkundemuseum von La Rochelle, wo das Kind, das Katharina Bihler gewesen ist, zusammen mit Großcousine Eleonor viel Zeit unter dem Bauch eines afrikanischen Waldelefanten zugebracht hat und dort nicht zuletzt lernte, zu staunen. Der Elefant wird im Hörspiel zu einer Art Wappentier des Alphabets, und er galt schon den alten Chinesen als Tier der Schrift, weil sein träger Lidschlag vermeintlich verriete, dass die Innenseite seiner Augenlider beschriftet sei und er regelmäßig die dort erscheinenden Texte studiere. „Ickelsamers Alphabet“ verschränkt, in einer tollkühnen Parallelaktion, die Natürlichkeit und die Sprachlichkeit als zwei unabdingbare Pole des menschlichen Daseins. Wehe, uns kämen die Tiere abhanden. Wehe, wir verlören die Sprache, das Wunderwerk der Grammatik, den Wortschatz, das klingende singende Alphabet. Deshalb handelt es sich bei diesem Hörspiel auch keineswegs um einen verstiegenen linguistischen Schabernack oder ein Glasperlenspiel. Mit Anmut, Buchstabenwitz, Grazie und dem Ernst eines vom eigenen Spiel hingerissenen Kindes wird ein akustisches Mobile verfertigt, das Fundamente des Humanen zum Schweben bringt. Im Echoraum von Naturlaut und Kulturgeräusch klingt an, woran unsere Existenz geknüpft ist, an unverfügbare Schöpfungstatsachen eben.

Gern erwähnte ich noch die Großmutter, eine Allgäuer Wirtin, die Wörter sammelte wie andere Muscheln, und die Enkelin gelegentlich mit Assonanzen beschenkte wie: die schallschluckenden Schlupflöcher der Schlickkrebse.

Last but not least: „Ickelsamers Alphabet“ ist ein Kabinettstück genuiner Hörspielkunst: konsequent vom Hören her gedacht und für’s Hören gemacht.

Liebes Auditorium, die Zeit ist knapp und diese Laudatio sehr fragmentarisch.
Deshalb mein lapidares Fazit: Aufhören. Zuhören.
Chapeau, Liquid Penguin.

Frankfurt am Main, 28. Februar 2015

 

 

 

 

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