Hörspiel des Jahres 2018

Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste benennt zum
Hörspiel des Jahres 2018:

Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen

von Susann Maria Hempel
Musik & Regie: Susann Maria Hempel
Redaktion: Mareike Maage
Produktion: RBB
Länge: 54:31
Ursendung: RBB Kulturradio, 28.11. 2018

Susann Maria Hempel. Bild: Samuel Henne.

Susann Maria Hempel. Bild: Samuel Henne.

Die Preisverleihung findet am 23. Februar um 19.30 Uhr im Literaturhaus Frankfurt am Main statt.

Die Begründung der Jury

Ein ‚Hörspiel des Monats‘ weist sich für die Jury als hervorstechendste Sendung unter sieben bis zehn qualitativ oft recht unterschiedlichen Einreichungen des jeweiligen Monats aus. Das ‚Hörspiel des Jahres‘ hingegen muss sich gegen elf ähnlich herausragende Sendungen behaupten können – inhaltlich, formal und künstlerisch. „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ von Susann Maria Hempel tut dies so souverän, dass man nur schwer glauben kann, dass es sich hierbei erst um die zweite Hörfunkarbeit der jungen Autorin, Komponistin, Sängerin, Regisseurin und – hervorragenden! – einzigen Sprecherin dieses radiophonen Gesamtkunstwerks handelt.

Performativ erzählend, zeichnet Hempel ihre Gespräche mit einem durch seine Haft in der ehemaligen DDR schwer traumatisierten Menschen nach: Der Schock der unrechtmäßigen Inhaftierung selbst als vermeintlicher Republikflüchtling, aber auch die Misshandlung durch Mitgefangene, haben ihn soweit aus der Bahn geworfen, dass ihm nicht mehr gelingt, seinen Alltag zu organisieren, wichtige Entscheidungen zu fällen, sich einer Fremdbestimmung zu widersetzen, oder auch nur diese Unfähigkeit anderen gegenüber zu verbalisieren, als mit seiner Gesprächspartnerin:

„Danke Susann. Danke dass ich darüber reden konnte jetze“, mit diesen Worten dringlich gesprochen und in thüringischer Sprachfärbung, beginnt das Hörstück. „Das konnt‘ ich jetzt wirklich bloß mit dir.“ Hempel lässt uns die große Intimität dieser Unterhaltung miterleben, ohne ihre Vertraulichkeit zu verraten. Es geht um die Auflösung des Ich und den Versuch seiner Rekonstruktion: „Ich hab keine Erinnerung mehr an mich. Wenn ich mich aber unterhalt‘, jetzt so mit dir jetze, dann kann ichs geistig zurückholen.“ Der Weg dorthin führt, es ist eine deutsche Geschichte, in den Wald der Kindheit, eine Art Privatmythos, den sich der Erzähler mit seinem Freund geschaffen hat, dessen kürzlicher Tod als Auslöser des Bekenntnisses angedeutet wird. Durch kompositorisch reduzierte elektronisch entfremdete hochromantische Liedsätze, Schumanns Eichendorff- und Heine-Vertonungen, durchbrochen von digitalem Vogelgezwitscher, Rotkehlchen und Zilpzalp, erschafft Hempel in und um diese Erzählung eine Atmosphäre, in der das, was wir Seele nennen, nahezu greifbar, ihre Verletzungen erfahrbar, und die Metaphern die ihrer Beschreibung dienen sollen, wirklich werden: Erfahrbar nur durch den intimen Sinn des Gehörs, schrecklich und schön.

Dem RBB ist es zu danken, dass hier eine Hör-Spiel-Macherin zu Wort kommen konnte, deren künstlerische Kraft ganz sicher noch weitere wichtige Impulse für die Hörspielgestaltung setzen wird. „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ wurde von uns in einhelliger Begeisterung zum Hörspiel des Jahres 2018 gekürt.

Die Jury 2018: Viktorie Knotková (Dramaturgin Schauspiel Bremen), Regine Beyer (Radioautorin und -regisseurin) Benno Schirrmeister (Journalist, die taz) Gastgebender Sender: Radio Bremen.

Kritik hier.

Hier ein paar Bemerkungen im „Kompressor“ vom 17.01.19 auf DLF Kultur.

Susann Maria Hempel wurde 1983 im thüringischen Greiz geboren. Mit 16 Jahren brach sie die Schule ab und wirkte als Musikerin, Schauspielerin und künstlerische Mitarbeiterin im Performance- und Künstlerkollektiv „Theaterhaus Weimar“. 2001 bis 2009 studierte sie Mediengestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar mit Schwerpunkt Kurz- und Experimentalfilm. Als Stipendiatin der Thüringer Kulturstiftung erhielt sie 2012 das „cast&cut“-Kurzfilmstipendium in Hannover. Heute gehört sie zu den erfolgreichsten Experimentalfilmerinnen Deutschlands. Hier ein Beispiel: „Der große Gammel“. Mit ihrem 18-minütigen Animationsfilm „Sieben Mal am Tag beklagen wir unser Los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen“ gewann sie sieben Preise im In- und Ausland, unter ihnen „Der Deutsche Kurzfilmpreis“ im Jahr 2014 und im Frühjahr 2015 den Grand Prix des Clermont-Ferrand Short Film Festivals, Frankreich. „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ ist ihr zweites Hörspiel.

Die Hörspiele des Monats 2018

  • Januar: Simeliberg von Michael Fehr, Regie: Kai Grehn, Komposition: Schneider TM (BR/RB)
  • Februar: Die Feuerbringer – eine Schlager-Operetta von Tomer Gardi, Regie: Susanne Krings, Komposition: Rainer Quade und Christian Hecker (WDR)
  • März: Blatnýs Kopf oder: Gott der Linguist lehrt uns atmen von Christine Nagel, Regie: die Autorin, Komposition: Peter Ehwald (RBB/DLF)
  • April: Karl Marx statt Chemnitz von Thilo Reffert, Regie: Stefan Kanis (MDR)
  • Mai: We love Israel. Ein Serial in 7 Folgen oder 2 Teilen von Noam Brusilovsky und Ofer Waldman, Regie: Noam Brusilowsky, Komposition: Tobias Purfürst / Yair Elazar Glotman (SWR)
  • Juni: Meine Erinnerungen reißen mich in Stücke. Frei nach Motiven aus Mary Shelleys biografischen Notizen von Cristin König, Regie: die Autorin, Komposition: Friederike Bernhardt (DLF Kultur)
  • Juli: Das Notizbuch vom Kiefernwald von Francis Ponge, Regie: Ulrich Lampen (HR)
  • August: Des Teufels langer Atem. Vierteilige Reihe von Robert Weber, Regie: Annette Kurth (WDR)
  • September: Paartherapeut Klaus Kranitz – Bei Trennung Geld zurück (Staffel 2) von Jan Georg Schütte und Wolfgang Seesko (RB/SR)
  • Oktober: Unterleuten von Juli Zeh, Bearbeitung und Regie: Judith Lorentz (RBB/NDR)
  • November: Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen von Susann Maria Hempel, Komposition und Regie: die Autorin (RBB) – Hörspiel des Jahres
  • Dezember: Die Welpen von Pawel Salzman, Bearbeitung, Komposition und Regie: Klaus Buhlert (DLF Kultur)

 

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