Grauschleier über der Stadt

Wolfram Höll: Und dann

Deutschlandradio Kultur, Mi 14.11.2012, 21.33 bis 22.13 Uhr

Neben der Vergabe des „Förderpreises für neue Dramatik“ der Heinz-und-Heide-Dürr-Stiftung sowie eines Werkauftrags der Bundeszentrale für politische Bildung wird auf dem „Stückemarkt“ des jährlichen Berliner Theatertreffens auch seit einigen Jahren vom Deutschlandradio Kultur der Bühnentext eines jungen Nachwuchsautors zur Adaption als Hörspiel ausgewählt. Im Mai dieses Jahres kürte man „Und dann“ von Wolfram Höll zum besten „Theatertext als Hörspiel“. Zur Begründung sagte Stefanie Hoster, Hörspielchefin von Deutschlandradio Kultur, der Text setze ganz auf die Stimme. Und die sei bei allen Entwicklungen, die die Kunstform erlebt habe, immer noch die Hauptkomponente eines jeden Hörspiels.

Dass der Text Wolfram Hölls eher für das menschliche Stimmorgan als für die reguläre Bühnenaufführung geeignet ist, belegt auch der Umstand, dass eine Uraufführung im Theater noch aussteht; bisher gab es lediglich szenische Lesungen. Wurde hier das für ein Hörspiel denkbar beste Stück prämiert – oder hat ein fast unaufführbarer Text sein passendes Medium gefunden? In „Und dann“ wird der kamerahaft unpersönliche Erinnerungsnebel eines Kindes in einer Art bruchstückhaftem Bewusstseinsstrom vertextlicht. Die drei Figuren haben keine eigentlichen Rollen. Sie erzählen eher, als dass sie darstellen, und nehmen dabei eine kindliche Perspektive ein. Die Parts der Geschwister dominieren und ihre Identitäten verschmelzen, auch durch den Sprecherwechsel, der manchmal in Versfrequenz stattfindet.

Den Text sieht der Wahl-Berner und gebürtige Leipziger Wolfram Höll nicht als autobiografisch, er schöpft aber aus der Quelle seiner Erinnerungsbilder. Die Szenerie ist in der Plattenbausiedlung einer ostdeutschen Großstadt der Wendezeit angesiedelt. Die drei ohne Namen bleibenden Figuren werden über ihre familiäre Rolle definiert. Doch diese soziale Gemeinschaft ist – von einem zurückliegenden Verlust überschattet – unvollständig. Es fehlt die Mutter zu Sohn 1 (Fabian Busch) und Sohn 2 (Florian Lukas), beide Kinder leben beim Vater (Michael Hanemann). Ob die Mutter gestorben, verschwunden oder weit weggezogen ist, erfährt man nicht. Aus der Leerstelle resultiert die Dysfunktionalität der Familie.

Fahrradausflüge in die Sächsische Schweiz täuschen nicht über die desolate Situation des Vaters hinweg. Er sitzt Stunden vor seinem Funkgerät, für die Kinder der „Würfelmittausendstimmendrinnen“, oder er verbringt die Zeit mit dem Zusammenschneiden alter Filmaufnahmen, auf denen die Mutter zu sehen ist. Die von ihm montierten Aufnahmen projiziert er abends auf die Hausfassade gegenüber. Irgendwann hören die Ausflüge ins Umland auf, der Vater verliert seine Arbeit und zieht sich noch weiter zurück. Viel mehr an Handlung gibt es auch nicht. Es ist die atmosphärische Dichte, die das rund 40-minütige Hörspiel in weiten Teilen ausmacht.

Die Grundstimmung von „Und dann“ ist Trauer. Überall wartet Verlustmetaphorik, ob nun fremde Knöpfe am Klingelbrett eines Hauses für Nicht-Zugehörigkeit stehen oder andere Familien als Kontrast die Unvollständigkeit der eigenen Familie hervorheben. Auch das Ersetzen des Begriffs „Findling“ durch „Verlierling“ zielt in diese Richtung. Der Gletscher hat den Kontakt zu den Steinen, die er während der Eiszeit mit sich schleifte, verloren. Die durchgängige Metaphernschwere ist aber leider eine Last, die novembriger Selbstzweck bleibt und die der Hörer, ohne an einen Bestimmungsort geführt zu werden, mit sich herumschleppt.

Rudimentär ist der Wortschatz. Abgesehen von wenigen Wortneuschöpfungen, die meistens als zusammengehäufte Ungetüme auftauchen, bedient sich Höll einer Sprache, die manchmal wie die ungewollte Karikatur einer kindlichen Ausdrucksweise wirkt. Er scheint ein wenig mit den Satzgliedern gewürfelt zu haben und setzt ansonsten weitgehend auf Auslassungen und Wiederholungen – so spricht und denkt kein Kind. Nebenbei täuscht Höll im Skript gebundene Sprache vor, um den „postdramatischen“ Charakter perfekt zu machen.

Die Sprecher ziehen den Hörer aber mit ihrer leisen, melancholischen und teils hypnotischen Sprachmelodie in das Stück hinein und hauchen den erzählten Erinnerungen eine gewisse Unmittelbarkeit ein. Auch die musikalische Untermalung ist stimmig gewählt. Tilman Ehrhorns dezente Komposition pendelt zwischen Trommelschlägen im Rhythmus des Herzens, undefinierbarem Sirren und einsam klagendem Saxophon. Regisseurin Cordula Dickmeiß und ihrer Assistentin Susanne Franzmeyer gelingt eine textgetreue wie auch kreative Umsetzung von „Und dann“ – im besten für das Skript denkbaren Medium. Den Grauschleier, der über Hölls bereits beim „Heidelberger Stückemarkt“ mit dem Nachwuchspreis ausgezeichneten Theatertext liegt, können aber auch die an der Hörspielumsetzung Beteiligten nicht wegwaschen.

Rafik Will – Funkkorrespondenz 47/2012

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