Erinnerungen aus dem audionomen Sektor

Katharina Döbler/Annette Schäfer: Das ganze Chaos live – Radio 100: Zeitreise in die Gegenöffentlichkeit. O-Ton-Feature

Deutschlandfunk Kultur, Mo 17.07.2917, 0.05 bis 1.00 Uhr

Am 4. März 2017 konnte man sie wieder im Radio hören, die kaum gealterte Stimme der hörbar erfolglos um schlechte Laune bemühten Manuela Kay, die schon 30 Jahre zuvor das „Morgengrauen“ moderierte hatte – das Frühprogramm des linksalternativen Senders Radio 100. Zu seinem 30. Geburtstag kehrte der Sender für einen Tag in den Äther zurück. Am Jubiläumswochenende trafen sich Radio-100-Veteranen in der Berliner Columbia-Halle zu einem Wiedersehensfestival.

Radio 100 – das war von 1987 bis 1991 der einzige ordentlich lizenzierte linksalternative Hörfunksender, der die damalige Vier-Sektoren-Stadt Berlin um einen audionomen Sektor erweiterte. Viele der ehemaligen Mitarbeiter sind dem Radio treu geblieben und auf verschiedenen Hierarchie-Ebenen angekommen, ob als Programmchef, Abteilungsleiterin, Feature-Redakteurin, Medienkritiker oder -wissenschaftler. Auch der Autor dieser Zeilen hat seine ersten praktischen Erfahrungen mit dem Medium Hörfunk bei Radio 100 gemacht. Einer der ehemaligen Mitarbeiter ist sogar Chef einer Bundesbehörde geworden: Der aus der DDR ausgebürgerte Journalist Roland Jahn, damals Mitinitiator des Magazins „Radio Glasnost“, ist seit März 2011 der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU).

Jetzt haben die Journalistin und Schriftstellerin Katharina Döbler, damals Redakteurin des Radio-100-Formats „Nachtflug“, und die Hörfunkautorin, Moderatorin und PR-Beraterin Annette Schäfer, ehemals Pressesprecherin von Radio 100, in Form ihres unkommentierten O-Ton-Features „Das ganze Chaos live“ eine, so der Untertitel, „Zeitreise in die Gegenöffentlichkeit“ gemacht.

Schon der Begriff „Gegenöffentlichkeit“ verweist dabei auf ein Medienzeitalter, in dem noch nicht jeder die Möglichkeit hatte, seine Meinung weitgehend kostenlos weltweit kundzutun, denn das Internet war damals noch ein Mailbox-System für Nerds. Zunächst lief Radio 100 im Sechs-Stunden-Betrieb auf der Frequenz 100,6 MHz, die man sich mit dem konservativen Sender Hundert,6 teilen musste. Nachdem man auf die Frequenz 103,4 MHz umgestiegen war, dort allein sendete und infolgedessen ein 24-stündiges Vollprogramm stemmen musste, beliefen sich die Kosten für den Alternativsender auf etwa eine halbe Million D-Mark pro Jahr. Das Feature enthält unter anderem eine Liste mit vier- bis fünfstelligen finanziellen Forderungen der Radiomacher, die vom Betreiber nie bezahlt worden sind.

Das Ende kam plötzlich, als am 28. Februar 1991 der Geschäftsführer Insolvenz anmeldete und über Nacht die Schlösser des Senders in der Potsdamer Straße 131 austauschte. Der Geschäftsführer war der heute 63-jährige Thomas Thimme, der im Anschluss erster Geschäftsführer des zur französischen NRJ-Gruppe gehörenden Privatsenders Radio Energy wurde, das die Frequenz von Radio 100 übernahm. Thimme gilt unter Radio-100-Mitarbeitern als das personifizierte Böse, als der, dessen Name nicht genannt werden darf und der auch im Feature nicht genannt wird.

Doch ob der nach dem Prinzip der Selbstausbeutung funktionierende Sender noch lange überlebt hätte, ist fraglich. Denn dass die Elastizität des Privatkontos die Bedingung der Möglichkeit des Senders war, wird in mehr als einem Statement der damaligen Macher Frank „Sambi“ Holzkamp, Hans Peter Kuhn, Geert Lovink, Frank Szeimies, Manuela Kay und Sabine „Bäng“ Wahrmann deutlich, die die Geschichte des Senders nacherzählen.

Katharina Döblers und Annette Schäfers Feature ist eine maßvoll verklärte Erinnerung an eine Zeit, als das Chaos noch nicht aufgebraucht war und im Radio Gespräche auch mal schiefgehen durften. Natürlich wird einiges nur angedeutet, wie die radikal-feministischen Kleinkriege, in denen Ideologie immer vor Praxis ging, was Manuela Kay, damals zeitweise Mitglied des rein weiblichen Aufsichtsrats, inzwischen auch zugibt. Denn, so Kay, „wir wussten überhaupt nicht, was eigentlich unsere Aufgabe war, außer nach außen zu repräsentieren: Dieses Projekt hat einen rein weiblichen Aufsichtsrat.“

Regisseurin Stefanie Lazai gibt dem Feature durch die Einbettung der O-Töne in ein Sounddesign, das weitgehend aus den eckigen Kompositionen des Berliner Analog-Techno-Trios „Brandt Brauer Frick“ besteht, eine angenehm zeitgenössische Anmutung. Der Ex-Radio-100-Macher und Medientheoretiker Geert Lovink denkt die Zeitreise, die das Feature unternommen hat, sogar noch in die Zukunft weiter, dann was von Radio 100 bleibe, seien die ausgestrahlten Sendungen, die einst von Wesen auf anderen Planeten empfangen würden, irgendwann.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 16-17/2017

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