Eine fast kubistische Liebesgeschichte

Gerhard Rühm: Hugo Wolf und drei Grazien, letzter Akt. Ein radiophones Redeoratorium

WDR 3, Fr 13.02.2015, 23.05 bis 23.45 Uhr

„Handlung ist sowieso bei mir immer ein Ausnahmefall“, sagte der Schriftsteller und Hörspielmacher Gerhard Rühm, der am 12. Februar seinen 85. Geburtstag gefeiert hat, im Anschluss an die Ursendung seines neuen Hörspiels „Hugo Wolf und drei Grazien, letzter Akt“. Die Warnung ist überflüssig, denn selbst wenn Rühms erstes Hörspiel seit neun Jahren keine Handlung im herkömmlichen Sinn enthält, so kann man der narrativen Struktur leicht folgen. Nicht zuletzt weil das Stück mit einer Einführung ausgestattet ist, die fast ein Drittel seines rund 40-minütigen „radiophonen Redeoratoriums für Stimmen, Geräusche und Klavier“ ausmacht. Damit setzt Rühm nicht nur die schöne Tradition der Vorworte fort, die ihren Höhepunkt mit der Erfindung des Neuen Hörspiels vor gut 40 Jahren erlebte, sondern er liefert einen weiteren Beleg dafür, dass man nur hört, was man weiß.

So erklärte Rühm in seiner Einführung, die von Dominik Freiberger gesprochen wurde, nicht nur das Konstruktionsprinzip seines Stücks, sondern auch biografische Details aus dem Leben seines Titelhelden Hugo Wolf (1860 bis 1903). Am Anfang habe aber nicht die Absicht gestanden, dem österreichischen Komponisten ein literarisches Porträt zu widmen, sondern ein ganz anderes Konzept. Rühms langgehegter Plan sei es gewesen, so heißt es in der Einführung weiter, ein Sprechstück für fünf Personen zu machen, von denen jede ausschließlich Wörter mit nur einem Vokal gebrauchen sollte. Dafür habe er Wortlisten mit monovokalen Vokabeln geführt. Dass er schließlich auf Hugo Wolf gestoßen sei, sei ein Glückstreffer gewesen. Denn dessen gespaltene Persönlichkeit – Folge seiner Syphiliserkrankung – wird von den zwei Vokalen seines Namens repräsentiert. Die drei Liebesbeziehungen seines Lebens hatte Wolf mit Vally Frank, Melanie Köchert-Lang und Frieda Zerny, die mit den ersten Silben ihrer Vornamen für die drei anderen Vokale sorgen.

Jeder der fünf Stimmen hat Rühm 50 monovokale Wörter zugeordnet, wobei die gespaltene Persönlichkeit des Hugo Wolf je 25 auf „u“ und 25 auf „o“ erhalten hat. Das ergibt in der Summe nur 200 Wörter, die von Gerhard Rühm selbst und seiner langjährigen Partnerin Monika Lichtenfeld gesprochen werden. Nach 13 Minuten Einleitung hat Rühm beim Hörer die Erwartung zementiert, einer trockenen, konzeptuellen Fingerübung beiwohnen zu müssen.

Doch es kommt völlig anders. Rühms Exerzitium in experimenteller Poesie entwickelt trotz bzw. wegen des sehr reduzierten Sprachschatzes und „der Aufhebung der Hierarchie des syntaktischen Regelsystems zugunsten der freien Verfügbarkeit des Einzelwortes“ einen Sog, der durch die Lautgestalt des Hörspiels trägt. Und daraus ragen eben die Plotpoints einer Geschichte hervor, für die man durch die Einführung sensibilisiert worden ist.

Aus einem „fragt anfangs, sagt anfangs, lacht anfangs“ entwickelt sich über die Rotation des Walzertakts „tanzt anfangs langsam, tanzt dann bald rasch“ ein „ersehnen, begehren, bereden, bedrängen“ – eine fast kubistisch zu nennende Liebesgeschichte. Das Arrangement des Sprachmaterials entfaltet seine maximale Wirkung auch dadurch, dass sich die ineinander verschränkten Stimmen von Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld in Synkopen umtanzen.

Es ist die Rhythmik des Vortrags, die die musikalische Dynamik dieses Hörspiels begründet, die die Wörter zunächst in Bewegung setzt und später wieder erstarren lässt. Eine akustische Form für die sowohl körperliche wie auch geistige Erstarrung, die den letzten Akt von Hugo Wolfs Leben bestimmt hat. Die synchrone Schichtung von „klingt, klang und klänge“, in der sich die Laute auf „i“, „a“ und „e“ überlagern, zeigt, dass sich die Stimmen der drei Grazien aus Hugo Wolfs Leben als Erinnerungen in seinem Bewusstsein manifestieren. Natürlich darf man bei der Trinität der Grazien auch an die drei Parzen denken, die der griechischen Mythologie zufolge die fünf Selbstlaute des ersten Alphabets erschufen.

Auch die Geräusche, die im Untertitel von Rühms Redeoratorium versprochen worden sind, sind monovokal. So wird ein Fink von einem Schuss niedergestreckt, wofür der notorisch geräuschempfindliche Hugo Wolf ein Jagdgewehr neben dem Schreibtisch bereithielt. Als „wehender Wind“ und „zerbrechendes Fenster“ sind hier bei Rühm selbst klischeehafte Hörspielgeräusche konzeptuell legitimiert. Auf dem Klavier schließlich erklingt, von Rühm selbst gespielt, eine vierstimmige Fuge des Beethoven-Zeitgenossen Anton Reicha – ein Stück von einer solchen Modernität, als sei es mindestens 200 Jahre zu früh komponiert worden. Überlagert wird die Musikspur mit der Rezitation der monovokalen Silben aus Briefen von Vally, Melanie und Frieda an Hugo Wolf – der letzte Akt eines in Umnachtung verdämmernden Lebens. So fügt sich ein tragischer Lebenslauf in das Konzept einer sprachexperimentellen Versuchsanordnung – große Kunst.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 4/2015

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