Ein Walter Ruttmann der Sprache

Ferdinand Kriwet: Rotoradio

WDR 3, Sa 28.07.2012, 15.05 Uhr / Deutschlandradio Kultur, So 29.07.2012, 18.30 Uhr

Es muss so Ende der 1960er Jahre gewesen sein, als sich die Hörspielabteilungen der ARD vom Stadttheaterbetrieb, bei dem jeder Sender seine Fassung des neuen Dürrenmatt, Eich, Frisch gemacht hatte, auf eine originellere Programmpolitik umstellten. Seitdem finden Neuinszenierungen von irgendwo schon einmal produzierten Texten nicht mehr statt. „Rotoradio“ ist eine rühmliche Ausnahme. Nachdem Michael Lentz im vergangenen Jahr für den Bayerischen Rundfunk (BR) eine Hörspielfassung des gesamten Textes von Ferdinand Kriwets 1961 erschienenem experimentellen Erstlingsroman „Rotor“ inszeniert hat (vgl. FK 19/11), durfte jetzt beim Deutschlandradio Kultur der Autor selber ran – und erstellte mit fünf jungen Schauspielern eine eigene Neufassung für die Reihe „Rauschzeichen“. Seit der großen „Yester’n’Today“-Retrospektive Kriwets im Jahr 2011 in Düsseldorf und Innsbruck bekommt auch sein Werk als bildender Künstler wieder den ihm gebührenden Platz im kulturellen Gedächtnis – im Radio war er als einer der Protagonisten des „Neuen Hörspiels“ mit seinen 16 Hörtexten nie vergessen.

In Kriwets römisch durchnummerierter Systematik müsste „Rotoradio“ der „Hörtext 0“ sein, wenn es denn eine römische Ziffer für Null gäbe. Den Begriff „Hörtext“ hat Kriwet entwickelt, „um auf die Spannungen hinzuweisen zwischen dem Hören, dem sinnlichen Eindruck von Sprachkompositionen und dem inhaltlichen Aspekt des Textes, der verstanden werden soll“ (Kriwet im Gespräch mit Klaus Schöning). „Rotoradio“ ist solch ein Hörtext, oder vielleicht besser gesagt ein Sprechtext, weil Kriwet aus einem schriftsprachlichen einen lautsprachlichen Text gemacht hat. Denn es ist natürlich ein Irrtum, zu glauben, dass das Zeichensystem Schrift dazu da wäre, die Lautsprache zu repräsentieren.

So haben denn auch die Notationen, anhand derer Kriwet seine Hörtexte produziert hat, eher etwas mit der Mehrdimensionalität von Grafiken zu tun als mit einem linearen Zeilenfluss der Schrift eines Manuskripts. Ausgeschnittene Textschnipsel, handschriftliche Ergänzungen, Markierungen für Zeiten und sogar ein vertikaler Ausschnitt eines Textes, der die Semantik der Sätze zurückdrängt, aber Spuren von ihr in den untereinander angeordneten Wörtern bewahrt, machen die Struktur des Hörbaren sichtbar.
An anderer Stelle werden in kleinteiliger Montage zwei Textabsätze von zwei Sprechern Wort für Wort nach dem Reißverschlussprinzip ineinander montiert. Ein Verfahren, dass man beim Hören intuitiv erfasst und das deswegen funktioniert, weil gute Tricks eben auch dann funktionieren, wenn man sie (er)kennt.

In chorischer Inszenierung mit allen Sprechern (Max Woithe, Janusz Kocaj, Janus Torp, Marian Funk, Ilja Pletner) beginnt „Rotoradio“ mit einer Schichtung der Wörter „immer das gleiche immer das gleiche immer das gleiche“, ohne je in ein Stimmengewirr abzugleiten, sondern stattdessen die rhythmischen Qualitäten kollektiven Sprechens freilegend. Die sieben einzelnen Teile des 40-minütigen Hörtextes sind von AAAAAA bis GGGGGG durchnummeriert, was man anhand des Produktionsskripts nachvollziehen kann. Zunächst geht es um das nächtliche Erinnern und Erwarten und Ferdinand Kriwet erlaubt sich einen kleinen selbstironischen Gastauftritt in seinem eigenen Stück mit dem Satz: „Mensch, toll, das waren noch Zeiten!“ Des Weiteren wird eine Bahnfahrt nach Paris geschildert und es wird eine Liebesgeschichte angedeutet. Doch das, was von dem Text des damals 19-Jährigen verstanden werden soll, tritt – wie schon in den früheren Hörtexten der 70er Jahre – hinter die Sprachkomposition zurück. Ein Komposition, die sich sowohl den Großstrukturen widmet als auch bis hinunter zur Silbenebene die (akustischen) Körper der Wörter untersucht.

In seinem Beitrag zum Katalog der Kriwet-Retrospektive vergleicht sein ehemaliger Dramaturg Klaus Schöning die Bedeutung des akustischen Werks Ferdinand Kriwets mit dem des Schnittvirtuosen Walter Ruttmann, der mit dem Stück „Weekend“ einen Tag großstädtischen Lebens in eine Geräuschcollage fasste. In der Tat ist Ferdinand Kriwet, der am 3. August 70 Jahre wird, ein Walter Ruttmann der Sprache.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 30/2012

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