Ein stillgestelltes Hörbild

Stefano Giannotti: Hin und zurück. Ein Western-Hörspiel‑Musical

SWR 2, Di 04.07.2017, 23.03 bis 0.13 Uhr

Ein Wächter, der die Rolle eines Chronisten übernimmt, eine Erzählerin, die auch die Stimmen anderer Figuren in sich birgt, und ein missgelaunter Schaffner, der den Übergang zwischen zwei Welten überwacht – dass gleich drei Erzählerfiguren das Hörspiel „Hin und zurück“ des italienischen Komponisten, Klangkünstlers und Hörspielmachers Stefano Giannotti bevölkern, ist recht ungewöhnlich. Ebenso apart ist die Gattungsbezeichnung „Western-Hörspiel-Musical“ für ein Werk, das auf einem Klangkunsttermin („SWR 2 ars acustica“) läuft. Umso erfreulicher, dass ein Hörspiel einen Sendeplatz überziehen darf, für den eigentlich maximal 57 Minuten zur Verfügung stehen. „Hin und zurück“ (Übersetzung aus dem Italienischen: Olivia Toffolini) hat eine Länge von 70 Minuten.

Das Stück hat eine filmische Vorgeschichte. Aus den Videoaufzeichnungen und Notizen einer Bahnfahrt in Polen hat Stefano Giannotti (der bereits zweimal mit dem Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst ausgezeichnet wurde) im Jahr 2010 einen 72-minütigen experimentellen Dokumentarfilm namens „The Walbrzych Notebook“ montiert. Die dort unternommene Reise aus dem prosperierenden Wroclaw (Breslau) in die verfallende Bergarbeiterstadt Walbrzych bildet die Folie für sein neues Hörspiel, das ebenfalls zwei Städte miteinander kontrastiert.

Was im Film der Perspektive und den Einstellungen der Kamera überlassen wurde, wird im Hörspiel durch die Perspektiven der Figuren erzählt. Doch bevor diese Figuren mit ihren eigenen Stimmen auftreten dürfen, übernimmt die Erzählerin in verschiedenen Sprechhaltungen ihre Rollen. So sehen wir die Welt eines Lehrers, eines Anwalts, einer Fotografin, eines Pfarrers, eines Maurers und einiger anderer Nebenfiguren in der Draufsicht aus einer Art Zentralperspektive. Denn dass wir uns durch ein (barockes) Hörbild mit großen Hell-Dunkel-Kontrasten bewegen, wird gleich zu Beginn angedeutet. Auf der einen Seite die schöne, große Stadt, die modern und antik zugleich ist, auf der anderen eine verwahrloste und scheinbar menschenleere Geisterstadt. Natürlich ist das ein Vanitas-Motiv.

Während die Erzählerin, gespielt von Caroline Junghanns, die Gegenwärtigkeit bzw. die Gleichzeitigkeit beschwört, erfüllt der Wächter (Henrik von Holtum) in einem spezifischen Singsang seine Rolle als Chronist. Er fungiert nicht nur als Auge und Ohr, sondern auch als der Stift, der Geschichte und Geschichten der Stadt aufzeichnet – ohne dass seine Aufzeichnungen je gelesen würden. Als Verbindungsmann fungiert der missgelaunte Schaffner (Jürg Löw), der die Zugfahrt zwischen beiden Städten begleitet. Es sind die Bewohner der großen Stadt, die die andere in Schutt und Asche legen, um bei ihrer Rückkehr festzustellen, dass sie ihre eigene Stadt zerstört haben. Das funktioniert natürlich nur in der paradoxen Logik eines stillgestellten Bildes. Und spätestens hier merkt man, dass auch die Figuren selbst Teil dieses Bildes sind.

Um das Statische eines Bildes, so handlungsreich das Abgebildete auch sein mag, in die zeitbasierte Kunstform Hörspiel zu überführen, bedarf es einer akustischen Dynamik, die die bildlichen Motive entsprechend übersetzt. Stefano Giannotti als Autor, Komponist und Regisseur seines Hörbildes bedient sich dazu popkultureller und popmusikalischer Referenzen auf alte Westernfilme, verfremdet Opernzitate und setzt elektronisch transformierte Geräusche ein. Außerdem bekommen beide Städte eine musikalische Architektur, deren Motive neben der sprachlichen Erzählung eine zweite narrative Ebene bilden.

Zum Western-Musical wird das Stück jedoch erst in seinem letzten Teil. Dort entwickeln sich die synkopischen Rhythmen des Zuges zu Pferdegetrappel und einen ordentlichen Showdown gibt es natürlich auch. Denn offenbar will jeder die Position des Wächters einnehmen – als erstes der Schaffner. Doch bevor er sich im Singsang seines Vorgängers einrichten kann, wird er auch schon von der Fotografin erschossen, die ihrerseits von dem Maurer, der seinerseits von dem Pfarrer, der schließlich von dem Lehrer umgelegt wird. Die Reihe setzt sich fort, bis die Erzählerin, mit der das Hörspiel begonnen hat, am Ende die Ausgangsfrage des Stücks wiederholt: „Habt ihr das Problem gelöst?“ – bevor auch sie erschossen wird. Natürlich lässt sich für die Figuren weder das Problem eines zyklischen Geschichtsverständnisses lösen noch das, dem Bild zu entkommen. Letzteres gelingt nur dem Autor, der es uns vor Ohren führt.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 14/2017

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