Ein Puzzle aus drei Monologen

Claudius Lünstedt: Krieger im Gelee

Deutschlandradio Kultur, Mi 07.09.2016, 21.30 bis 22.30 Uhr

Drei Figuren, drei Stimmen, drei Monologe – der Text „Krieger im Gelee“ von Claudius Lünstedt, uraufgeführt 2008 im Wiener Schauspielhaus, ist keiner, der auf dramatische Interaktion setzt. Die erste Stimme des Stücks, das jetzt vom Deutschlandradio in einer auf 60 Minuten gekürzten Fassung als Hörspiel inszeniert wurde, gehört Mervin, einem 14-jährigen Jungen aus großbürgerlichem Hause, der widerwillig zum Fechtunterricht geht. Er muss dort hin, weil sein Vater ihn frühzeitig mit dem Netzwerk seiner Burschenschaft vertraut machen will.

Max Mauff. Bild: Deutschlandradio / René Fietzek.

Max Mauff. Bild: D-Kultur / René Fietzek.

So disparat und desperat wie die Pubertät nun mal verläuft, so spielt Max Mauff die Rolle des Mervin. Zwischen Entgrenzung und Abgrenzung, zwischen „Scheiß-Zerbrechlichkeit“ und Fernweh. Eines Tages erhält Mervin einen anonymen, in einer etwas altertümlichen Sprache abgefassten Brief, in dem ihm ein Unbekannter seine Freundschaft anträgt und verspricht, seine Sehnsüchte zu erfüllen. Aber schon beim ersten Treffen entführt dieser „großdünne Mann“ Mervin und steckt ihn in einen reißfesten Sack. Später wird ihn Dieter daraus befreien, ein arbeitsloser Tierarzt, Praktikant beim Veterinäramt und zufällig Teilzeitgärtner bei Mervins Familie.

Die zweite Stimme gehört Martin (Jörg Hartmann), dem besten Freund von Dieter, und das ist eben jener großdünne Mann, der Mervin entführen wird und dessen Tod geplant hat. Martin verlässt seine Wohnung nicht oft. Er hat sich ein strenges Regime auferlegt, um gegen die zwischen seinen Hirnwindungen eingelagerten winzigen und bis unter die Zähne bewaffneten Krieger zu bestehen – eben jene titelgebenden „Krieger im Gelee“. „Da, wo absolute Gesetzmäßigkeit herrscht, bleibt kein Raum für Freiheit, und wo keine Freiheit ist, da bleibt das Böse außen vor“, sagt Martin. Doch die Krieger im Gelee sagen ihm etwas anderes, nämlich dass es kein Gut und Böse gibt. Das einzige von Martin verehrte Buch, weil es „das Böse zwischen zwei Buchdeckel gebannt hat“, wird dann aber der Auslöser für seine Tat. Obwohl der Titel nie genannt wird, lässt sich das Buch als »Die Gesänge des Maldoror“ von Isidore Ducasse identifizieren, der sich Comte de Lautréamont nannte. Im sechsten Gesang gibt es eine Figur namens Mervyn, der ein Opfer von Maldorors ebenso wütendem wie sadistischen Aufstand gegen Gott und die Welt sein wird. Mervin soll Martins Mervyn werden. Er betäubt sein Opfer und transportiert ihn zum Veterinäramt, auf dass es dort zusammen mit anderem Getier verbrannt werde.

Die dritte Stimme des Stücks ist schließlich die von Katrin (Friederike Kempter), der Freundin des Tierarztes und Teilzeitgärtners Dieter. Vom Temperament her ist sie das genaue Gegenteil der Männerfiguren. Sie steht kurz vor dem juristischen Staatsexamen und hält gerne Plädoyers. Ihr Part setzt ein, als Martin seinen Freund Dieter anruft, weil er mit seiner Tat doch nicht so cool umgehen kann, wie er dachte. In einer masochistischen Bestrafungsphantasie will Martin sich den Aufenthaltsort von Mervin „aus dem Körper reißen“ lassen. Natürlich glaubt ihm Katrin die Geschichte nicht und außerdem ist der Junge da schon längst gerettet. Aber Dieter wird an Martins Enthüllung zerbrechen.

Der Text von Claudius Lünstedt ist wie ein lückenhaftes Puzzle konstruiert, dessen Teile erst im Verlauf der Geschichte ein vollständiges Bild ergeben. Erst beim zweiten Hören merkt man, wie raffiniert die Geschichte erzähltechnisch gebaut und wie kunstvoll Lautréamont in den Text integriert ist, ohne sich allzu sehr vorzudrängen. Das Stück funktioniert auch ohne Kenntnis dieses literarischen Bezugs. Hinzu kommt die genaue Figurenzeichnung, die nicht viele Worte braucht, sondern von den Schauspielern unter der Regie von Cordula Dickmeiß kongenial umgesetzt wird. Fast berichtend und durch die Variation der Sprecherposition im Stereobild ergeben sich drei spannungsreiche Monologe, an denen man die ganzen 60 Minuten des Hörspiels dranbleiben will.

Andreas Bick hat dazu einen perkussiven Soundtrack komponiert und den Figuren Schlagzeug, Klavier und Cello zugeordnet. Ergänzt wird die Soundspur um dezente akustische Atmosphären, die eine Verortung der Handlung ermöglichen, ohne allzu realistisch oder gar illusionistisch zu werden. Cordula Dickmeiß, die schon ihr besonderes Gespür für vielschichtige Texte in Wolfram Hölls Hörspiel „Und dann“ (Kritik hier) bewiesen hat, inszeniert „Krieger im Gelee“ so, dass der Text als Hörspiel ganz zu sich kommt. Bleibt nur die Frage, warum es acht Jahre gedauert hat, um Claudius Lünstedt als Hörspielautor zu entdecken.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 19/2016

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