Dokumentation, Robert Schoen: Nullkommasechs Prozent

Eine Hörspielrechnung am Beispiel von „Heidi Heimat“

Von Robert Schoen

Dialog 16
F 1: (sehnsüchtig) Warum sagen Sie nichts?
M 4: Es ist schwer für mich, die richtigen Worte zu finden.
F 1: Reden Sie weiter. Ich bin sehr gespannt. Ich finde das wirklich spannend was Sie sagen.
M 7: (im Hintergrund) Sie wollten die Rechnung: zwei Bier, zweimal Bockwurst, zusammen 16,80. War’s recht? Hat es den Herrschaften geschmeckt?

Petra Müller, Robert Schoen ("Heidi Heimat"), Hans-Dieter Hain Bild: Roberto Pfeil / Film- und Medienstiftung NRW

Petra Müller (Filmstiftung NRW), Robert Schoen, Hans-Dieter Hain (BKD)

Es hat sich leider herausgestellt, dass ich nicht besonders gut schreiben kann. Einen Brief ja, einen Einkaufszettel, aber sonst: Mittelmaß, schwer verkäuflich. So bleibe ich Jäger und Sammler, begebe mich „hinein in einen Wald aus Zeichen“ (Tocotronic) und lege mich auf die Lauer. Da liege ich rum und warte, dass etwas vorbeihoppelt. Etwas, das mich anspricht, emotional, das mich erregt, erfreut, belustigt, traurig oder wütend macht und den Wunsch nach ästhetischer Transformation in mir weckt. Warum dieser Wunsch? Keine Ahnung. Innere Unruhe?! Beginnt die Durchblutung meiner Hörspiellefzen, dann wird der Kopf eingeschaltet und er stellt sich Fragen:

A. Erinnere dich an Sachen, die gut funktioniert haben.

1996, Mexiko-Stadt, Hörspielseminar an der Universität Sor Juana bei Frau Lidia Camacho. Aufgabe: Dramatisieren Sie die Novelle „La cabellera“ („Haar“) von Guy de Maupassant fürs Hörspiel.

Mein Problem: Miserables Spanisch.

Die Lösung: Ich gehe auf den Platz vor der Kathedrale und bitte die Passanten, sich Passagen der Erzählung durchzulesen und mir zu berichten, was drinsteht.

Unerwartete Nebenwirkung: In der Regel beginnt der Andere, ausgelöst durch den Maupassantschen Input, nach spätestens zwei Minuten über sein eigenes Leben zu sprechen.

Das Resultat: Ein Hörspiel, in dem sich Guy de Maupassants alter Zopf von 1884 mit der Situation des mexikanischen Heute verfitzt.

B. Stell dir Fragen

1 Handelt es sich um eine kleine, private Erregung? Dann sollte sie im Privaten bleiben und ich verwerfe eine Umsetzung.

Eine Erregung im Jahr 2011: Schaue mir die „Heidi“-Verfilmung von Luigi Comencini aus dem Jahr 1952 an. Das Mädchen Heidi: Elsbeth Sigmund. Verlust der Heimat. Entwurzelung.

2 Könnte mein Angerührtsein symptomatisch für eine mir nicht im Einzelnen bekannte Allgemeinheit sein?

Dann die Nachrichten: Nur 0,6 Prozent der Weltbevölkerung sind auf der Flucht. Tendenz: gleichbleibend. Ach so, dann wird das wohl niemanden interessieren. Andererseits: Ein durchschnittliches Hörspiel erzielt auch nur einen Höreranteil von 0,6 Prozent. Zufall?

3 Warum soll sich das, was ich mir – ausgelöst von der unerhörten Begegnung/Erfahrung – ästhetisch zusammenfasle, ein anderer anhören – wo könnte der Gewinn für den Hörer/die Stadt/den Weltkreis sein?

Kurz nach den 0,6 Prozent: Peter Liermann vom Hessischen Rundfunk ruft an und fragt, ob ich mal den Roman „Die Filmerzählerin“ von Hernán Rivera Letelier lesen will. Zitat:

„Etwas Aufregenderes als Kino gibt es nicht in dem Minendorf inmitten der chilenischen Atacama-Wüste. Die Männer arbeiten im Salpeterabbau, die Frauen sollen vernünftig wirtschaften und haben die zahlreichen Kinder am Hals. Da bieten die Hollywoodfilme mit Marilyn Monroe oder John Wayne eine willkommene Abwechslung und den Abglanz einer anderen Welt. Doch eines Tages erlebt die Siedlung etwas noch Schöneres als Kino: María Margarita, ein zehnjähriges Mädchen, kann Filme so anschaulich und dramatisch nacherzählen, dass die Leute herbeiströmen, um sie zu hören. Bald drängt sich die halbe Siedlung in der engen Stube ihrer Familie, wo sie mit kindlicher Freude das Leinwandgeschehen zum Leben erweckt.“

Tolles Buch. Trotzdem, wir legen es erst mal zur Seite. Idee für das „Heidi“-Projekt. Freude über Liermanns Offenheit und Vertrauen.

C. Wenn ich eine Antwort zu Frage 3 gefunden habe, beginnt das Sammeln.

Sich ganz vorsichtig annähern …

Suche nach Menschen, die Fluchterfahrung am eigenen Leib und der eigenen Seele erfahren haben. Menschen, die dabei nicht verwüstet wurden und sich vorstellen können, bei einem Hörspiel mitzumachen, Arbeitstitel: „Heidi in der Fremde“. Bei der Suche helfen unter anderem mit: Ricarda Franzen, Dr. Harald Treptow, „Kölner Stadt-Anzeiger“, „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“, das Internet, Flüchtlingsrat NRW, Pro Asyl, Kölner „Express“, Stefan Koppelmann, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Kirchenkreis Essen, Heinz Drucks von der Diakonie Ruhr-Hellweg e.V. Flüchtlingsberatung.

… ganz vorsichtig, damit die Menschen keinen Schreck bekommen.

Das Substantielle ist nämlich ein sehr scheues Reh.

Anrufen.

Erklären: „Guten Tag, Sie sind eingeladen, den „Heidi“-Film zu schauen, ich komme mit einem Aufnahmegerät zu Ihnen und Sie erzählen, was in dem Film passiert. Wenn wir abschweifen, kann das Bestandteil des geplanten Hörspiels werden. Alles, was ich von Ihnen verwenden möchte, lege ich Ihnen zur Abnahme vor. Wenn ich was von unserem Gespräch verwende, bekommen Sie ein Honorar.“

Zuhören.

Zwanzig DVDs mit „Heidi“ von 1952 kaufen (Komplettbestand der Internetgroßhändler). Verschicken nach Köln (Syrien, Togo, Guinea, Somalia, Persien, Tschetschenien), Langenfeld (Usbekistan), Hürth (Iran), Essen (Kongo, Palästina), Düsseldorf (Iran), Hamm (Republik Guinea), Soest (Libanon), Meckenheim (Afghanistan). Eine Woche Aufnahmen in Nordrhein-Westfalen (die Film- und Medienstiftung NRW ist erfreulicherweise mit im Boot). Aufnahmezeit bei jedem der Gespräche zwischen 30 Minuten und sechs Stunden. Bei den Aufnahmen alle Erzählformen zunächst zulassen und nicht das, was ich mir vorgestellt habe, als gesetzt nehmen. Es ergeben sich: freier Vortrag, Echtzeiterzählung anhand des parallel laufenden Films, Lesung eines vorbereiteten Textes, dialogisches Erzählen zweier Freunde, freies Fabulieren über irgendetwas, strenge Filmnacherzählung, detaillierte Aufschlüsselung eines Scheidungs- und Sorgerechtsprozesses in Kanada, lyrischer Vortrag eigener Gedicht und vieles mehr.

Zulassen.

Die große Schere kommt früh genug. Da ist sie schon:

D. Wenn man alles beisammen hat, lauscht man dem Material die gebotene Struktur ab
und vermengt das Ganze mit den Theorien/Maximen/Arbeitsweisen, die man so entwickelt, gelernt, abgekupfert, abgeklopft und für brauchbar befunden hat:

Maximen

• Hüte dich vor der Eindimensionalität: Du selbst und die Hörer müssen sich von vielen Seiten einer Szene/Geschichte/Musik/Stimme annähern können.

Musikalische Ebene: Kontrapunkt, geografische Herkunft, Zusammentreffen unterschiedlicher musikalischer Welten, Emotionalisierung, Distanzierung, Leitmotivik.

Geräusche: Raspeln, Säuseln, Frequenzen, Schmatzen, Singen, Schweigen, Atmen, Rascheln, Intonieren, Rhythmisieren, Rauchen und sonstige Zufallsgeräusche.

• Vermeide es, Antworten zu geben: Komm bloß nicht neunmalklug daher!

Keine erklärenden Zwischentexte einer Erzählerinstanz.

• Beginne bloß nicht immer beim Text.

Freude am Klang und der Fremdheit der Heidi-Erzählung in der jeweiligen Muttersprache.

• Was dich langweilt, langweilt auch die anderen.

Es ist ein Hörspiel, kein Kommuniqué.

• Mach es dir nicht zu leicht: Wo du schnell landest, willst du auch schnell wieder weg.

Die Struktur des Stücks – jetzt: „Heidi Heimat“ – entwickelt sich erst während und nach der kompletten Transkription aller Aufnahmen (14 Interviews, 237 Seiten). Das Schreiben findet im Schnittprogramm des Computers statt. Helmut Kopetzky nennt das den „akustischen Autor“. Das Manuskript entsteht erst im Nachhinein.

• Vermeide allzu plumpe Redundanzen: Benutze kein Element, dessen Aufgabe schon von einem anderen Element des Stückes übernommen wird. Manchmal sind Ausnahmen aber auch erlaubt. Sei nicht allzu streng mit dir, sonst macht es keinen Spaß mehr.

• Bewahre dir soweit wie möglich deine ursprüngliche kindliche Ergriffenheit.

• Vermeide überbordende analytische Verwurschtelungen während des Produktionsprozesses.

• Präsentiere den Fachkundigen Zwischenergebnisse und hör zu, was man dir zu sagen hat.

Erste Ansprechpartner: Ricarda Franzen und Peter Liermann …

• Begreife Kritik als Geschenk, nicht als persönliche Beleidigung.

… dann Vorhören im Freundes- und Bekanntenkreis mit der Bitte um ungezügelte Kritik.

• Verwirf – wenn nötig – deine Theorien und such dir neue.

Aufwändig, aber leider nicht anders zu machen.

• Zufall: Fang auf, was dir zufällt, und prüfe, ob es das Stück besser macht.

Irgendwann einen Strich druntermachen, und wenn es gut gelaufen ist, finden alle Beteiligten (Macher, Medium, Hörerschaft) vielleicht etwas ErZählbares jenseits der statistischen 0,6 Prozent.

Dialog 8

F 3: Ich staune.
F 2: Worüber?
F 3: Über alles.

Anm.: Dialog 16 und Dialog 8 aus: „Die Durchquerung der Tiefe in dreizehn dunklen Kapiteln. Eine Radio-Reise“ von Ror Wolf.

 

Die Jury meint zu „Heidi Heimat“:

Robert Schön lässt Asylbewerber und Migranten den Film „Heidi“ nach erzählen, die Geschichte des kleinen Mädchens, das aus einem Leben in der Natur, mit vertrauten Menschen und Tieren, in die Großstadt Frankfurt zu einer fremden Tante verschlagen wird. Im Blick auf diesen Film erleben sie ihr eigenes Schicksal von Heimatverlust, Heimweh, Fremdheit. Ein Schicksal, das auch einer der Juroren aus seiner eigenen Lebenserfahrung nachvollziehen konnte.

Das Heimweh der Migranten ist gebrochener als das des Kindes Heidi, denn sie kommen nicht aus einer heilen Welt, sondern mussten fliehen vor Bürgerkrieg, politischer Verfolgung, staatlicher Unterdrückung. Ihre Fremdheit ist heftiger, ihr Weg aus Angola, Usbekistan, Georgien, Iran war sprachlich und kulturell weiter und gefährlicher. Auch das Verhältnis zum Ort der Ankunft ist gebrochener, sie fühlen sich fremd und aus ihrer Welt verstoßen, aber sie fühlen sich auch sicher, können ruhig schlafen. Und selbst das Heimweh ist eine gebrochene Empfindung… Da gibt es auch die klare Aussage: „Heimat ist, wo ich wie ein normaler Mensch behandelt werde, nicht wie Dreck.“

Robert Schön hat in einer sorgfältigen Montage die Punkte herausgearbeitet, in denen die jeweiligen Schicksale verbunden sind. Der Jury gefiel die Musikalität der Inszenierung, die aus der Vielfalt der Stimmen, der Akzente, der fremden Sprachen, der Sichtweisen einen mehrstimmigen Chor macht. Sie lobte, dass dieses Hörspiel ein vieldiskutiertes Thema von seinen Schlagworten befreit und durch Sympathieträgerin Heidi nahe ans Publikum rückt.

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