Dokumentation, Gert Roland Stiepel: Abwrackprämie für Alte

Zu Entstehung und Hintergründen des Hörspiels „Abschiedsgeschenk“

Von Gert Roland Stiepel

Gert Roland Stiepel

Gert Roland Stiepel

Die Idee zu meinem Hörspiel „Abschiedsgeschenk“, in dem es um den Zynismus einer Ökonomie des Ablebens geht, hat eine längere Vorgeschichte: In den 80er Jahren dachte man in der Automobilindustrie und bei deren Zulieferern verstärkt in ökologischen Kategorien. „Das Auto von morgen: leichter, umweltfreundlicher, langlebiger“, hieß die Devise. Gut zwanzig Jahre später mussten die Autohersteller allerdings feststellen, dass ökologisch und ökonomisch nicht so recht zusammenpassen, denn die technisch fortschrittlichen Fahrzeuge mit korrosionsfreien Karosserien hielten zu lange, die Autobauer wurden ihre Neuwagen nicht mehr los. Und so erfanden die Lobbyisten 2009 im Zuge der Finanzkrise die Abwrackprämie. Mein Auto war seinerzeit ein Kandidat dafür. Es war, relativ gesehen, so ungefähr in meinem damaligen Alter.Das war – vor ziemlich genau fünf Jahren – die Ausgangsüberlegung zu meinem Hörspiel „Abschiedsgeschenk“. Die Parallele war unübersehbar: Medizinisch-wissenschaftlicher Fortschritt, Gerätemedizin und Pharmaindustrie ermöglichen es uns, ein zunehmend hohes Alter zu erreichen. Willi Winkler sprach in der „Süddeutschen Zeitung“ ironisch vom „unkaputtbaren Rentner“, die Politik von einer „gesunden Lebenserwartung“, wobei sie verschweigt, dass Ersteres überwiegend den Reichen vorbehalten ist: nämlich die gewonnene Lebenszeit bei guter Gesundheit zu nutzen. Für die meisten hat Alter eine weniger rosige Zukunft.

So werden wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr los: Wir steuern auf eine für die Wirtschaft ungesunde Altersschwemme zu: reichlich viele Menschen, die zwar uralt werden können, aber das Gesundheitssystem enorm belasten. Der demografische Notstand ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Überalterung unserer Bevölkerung wird spätestens in der kommenden Generation zu einem immensen wirtschaftlichen Problem, wenn nichts passiert Die Zwischenlösung heißt heute: horrende Zuzahlungen hier, erhebliche Leistungskürzungen dort. Zum Beispiel kein künstliches Hüftgelenk für Leute Ü 85, was den armen Alten sehr missfällt, für einen Herrn Mißfelder aber schöne heile Gesundheitsökonomie bedeutet. Und was kommt danach?

In dem Zusammenhang fiel mir ein japanischer Film wieder ein: „Narayama bushiko“ („Die Legende von Narayama“), 1982 gedreht von Shóhei Imamura. Die Geschichte spielt in einer abgelegenen Bergregion Nippons unter armen Bauern. Da die Vorräte für die kalte Jahreszeit stets zu knapp sind, um alle Bewohner über den Winter zu bringen, wurden die Alten traditionell dazu verpflichtet, sobald sie das 70. Lebensjahr vollendet hatten, sich zum Sterben auf den Berg Narayama zu begeben. Wer es nicht schafft, wird hinaufgetragen. Carl-Henning Wijkmarks „skandalöse Prognose“ (Hans Magnus Enzensberger) „Der moderne Tod“ aus dem Jahr 1978, ein sozialpolitisches Zukunftsszenario über die demografische Katastrophe, geht noch einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung Staatsräson. Die radikale politische Lösung heißt: organisierter Tod. Anruf genügt.

Ökonomische Zwänge haben auch in realiter schon des Öfteren zu drastischen Maßnahmen geführt. Auch wenn es um die Unverträglichkeiten des Alterns geht. John Updike lässt in „Rabbit, eine Rückkehr“ (2002) seinen Protagonisten sagen: „Man fragt sich, wie viel Totgewicht eine Gesellschaft zu tragen imstande ist. Irgendwann im nächsten Jahrtausend werden die Regierungen einen Stichtag einführen müssen. Die Eskimos haben’s getan und die Stämme der amerikanischen Ureinwohner haben’s getan.“ Und der ehemalige US-Präsident Roosevelt hat einmal formuliert: „Wenn öffentliche Missstände […] entstehen, kann der Gesetzgeber das Übel an den Wurzeln packen.“

Ist die dem „Abschiedsgeschenk“ zugrunde liegende Idee wirklich so utopisch? Sollte diese Frage für ein fiktives Hörspiel überhaupt relevant sein? Dazu ein paar, wie ich finde, interessante Anmerkungen. Ein alter Freund von mir ist Jurist, Professor an der Universität Bremen, Spezialgebiet: öffentliches Recht, und da wiederum spezialisiert auf Recht in der Medizin. Diesen Fachmann hatte ich wegen meiner Hörspielidee konsultiert. Seine Stellungnahme war die erwartete: So etwas könne es in Deutschland nie geben, das verbiete Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes. Die von mir erwähnten allmählichen Aufweichungen vieler Gesetze, zum Beispiel in Sachen Verteidigungsauftrag oder Datenschutz, stünden auf einem anderen Blatt, meinte der Jurist, die grundgesetzlich garantierte Würde des Menschen sei unantastbar, sie sei und bleibe das höchste Gut. Seit fünf Jahren nun macht das neue Gesetz über die Patientenverfügung deutlich, dass es nicht nur eine Würde im Leben gibt, sondern auch im Sterben – ein wichtiger neuer Aspekt.

Zum Thema Grundgesetz und Würde: Vor kurzem erschien an der Universität Regensburg eine interessante juristische Dissertation, die den staatlich geduldeten Pflegenotstand in einem der reichsten Länder der Erde aufs Korn nimmt. Fazit der Arbeit: Der zu Achtung und Schutz der Grundrechte verpflichtete Staat, der nicht genug gegen den Notstand unternehme, müsse verklagt werden, er verstoße gegen das Grundgesetz, denn die Würde der Menschen in den deutschen Altenpflegeheimen werde tagtäglich angetastet. Der Sozialverband VdK erhebt nun (laut einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 24. April 2014) tatsächlich Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wegen der grundrechtswidrigen Zustände im deutschen Pflegesystem. So viel zum ‘ehernen’ Grundgesetz.

Völlig aus der Luft gegriffen scheint mir die Idee vom „Abschiedsgeschenk“ aus vielen Gründen nicht: In Sachen Sterbehilfe gibt es eine deutliche Aufweichung der Indikation. Auf allen Ebenen wird heute über Dinge diskutiert, die noch vor zehn Jahren tabu waren. Nicht erst seit dem Gesetz über die Patientenverfügung ist es so, wie Heribert Prantl es im Juni 2009 in der „Süddeutschen Zeitung“ treffend formulierte: „Das Recht hat nicht das Recht, den Menschen das Sterben zu erschweren.“ Und wenn es um die immensen Kosten geht, die einer Gesellschaft durch die regelrechte Vergreisung aufgebürdet werden, ist das Ende der Tabuisierung von Sterbehilfe ebenfalls unschwer abzusehen, zumal es hier bereits, teilweise auch schleichend, zur erwähnten Aufweichung gekommen ist. Wogegen heute politisch noch vehement zu Felde gezogen wird, ist die geschäftsmäßige Sterbehilfe, die auf Profit angelegte Hilfe zur Selbsttötung. „Gesetzlich können wir nur regeln, was nicht sein darf: nämlich aggressive Werbung und Kommerzialisierung“, betont zum Thema Sterbehilfe SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, als ahne er etwas voraus. Also: vorerst keine Abschiedsklinik „Pro Vita“ und kein staatliches Abschiedsgeschenk. Und kein Rundfunkspot, der das Opfer Abschied euphemistisch bewirbt, wie zu Beginn meines Hörspiels. Das ist und bleibt – hoffentlich – Fiktion.

Sehr kontrastreich zur juristisch-politisch-medizinisch-ethischen Sicht der Dinge ist übrigens die Beurteilung durch viele betroffene Alte selbst. Dazu folgende kleine Anekdote: Nachdem ich meinen Freund in Bremen wegen juristischer Fragen zum „Abschiedsgeschenk“ aufgesucht hatte, fuhr ich tags darauf weiter nach Lübeck, um mein altes Tantchen zu besuchen, das letzte Mitglied der Familie, das noch in der ersten Reihe sitzt, damals Ende 80, jetzt 92. Als ich der Guten in ihrer Residenz vom „Abschiedsgeschenk“ erzählte, sagte die geistig frische, aber lebensmüde alte Dame: „Das sollen die mal ganz schnell einführen. Hier im Heim wären einige sofort dazu bereit, ich wäre auch dabei. Und die 50 000 Euro würdest du natürlich bekommen.“ So viel zu den Hintergründen des Hörspiels.

Schließlich noch ein paar Sätze zu Projektentwicklung und Produktion vom „Abschiedsgeschenk“. Vor gut vier Jahren nutzte ich meine Kontakte zur WDR-Hörspielabteilung, für die ich in den späten 80er Jahren – zusammen mit Peter Jacobi – eine Serie von Mitmach-Hörspielen entwickelt hatte. Die Dramaturgin Nadine Schmid wies mich frühzeitig auf die Klippen hin, die es zu umschiffen gelte. So wurde recht schnell deutlich, dass der schmale Grat, auf dem das Social-Fiction-Stück wandelt, nur in Form einer Groteske zu bewältigen war. Und nach meiner Erfahrung beim Schreiben des Textes glaube ich, dass nichts schwieriger ist, als dabei den richtigen Ton zu treffen, gerade bei diesem ernsten Sujet. Für mich war Stanley Kubricks Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ aus dem Jahr 1963 das Musterbeispiel einer gelungenen Satire über ein todernstes Thema (den atomaren Overkill), ein absolutes filmisches Meisterwerk. Ich glaube, ich habe diesen Film während der rund dreijährigen Entwicklung meiner Story fünf oder sechsmal gesehen. Das in meinen Augen schließlich fertige Hörspielmanuskript ging dann – vor knapp zwei Jahren war das – an verschiedene Sender. Als erstes reagierte der SWR mit einer ausführlichen, sehr positiven Bewertung durch die Dramaturgie. Allerdings hieß es am Schluss, es bestehe die Gefahr des Klamauks, wenn das Stück nicht richtig umgesetzt werde.

Ein interessanter Kritikpunkt am ersten Manuskript war, dass einiges mit zu dickem Pinsel aufgetragen sei, das gehe bis in die Begrifflichkeiten. Was offenbar übersehen wurde: Der Terminus „Restlebenswert“ zum Beispiel stammte ebenso wenig von mir wie die „qualitätsadjustierten Lebensjahre“. Das sind gängige Begriffe in der Gesundheitsökonomie. Der Claim „Jedes Alter zählt“ im Funkspot zu Beginn des Hörspiels ist ein der Anfang 2012 von der Bundesregierung publizierten „Demografiestrategie: Politik für alle Generationen“ entlehnter Slogan (im Bundestagswahlkampf 2013 von der CDU in der Wahlwerbung fast eins zu eins übernommen als nichtssagender Spruch: „Weil jeder zählt“). Und das Wortungeheuer und Unwort vom „kassenunverträglichen Langzeitleistungsinanspruchnehmer“ ist zwar aus meiner Feder, stellt aber auch nur eine Überhöhung des „sozialverträglichen Frühablebens“ dar, einer Formulierung, die ausgerechnet aus dem Munde des ehemaligen Ehrenpräsidenten der Bundesärztekammer stammt und 1998 tatsächlich zum „Unwort des Jahres“ gekürt wurde.

Die Gefahr des Klamauks sah man beim NDR ganz und gar nicht. Man erkannte vielmehr die Chance für das Medium Hörspiel, ein brisantes, hochaktuelles Thema aufzugreifen, das journalistisch bereits vielfältig abgehandelt wurde (unter anderem 2012 in der ARD-Themenwoche „Leben mit dem Tod“). Susanne Hoffmann, Dramaturgin beim NDR, brachte noch einige Verbesserungsvorschläge ein, den beiden Hauptpersonen noch mehr Profil zu verleihen. So wurde Frau Walter ambivalenter angelegt in ihrer tragischen Entscheidungssituation. Susanne Hoffmann holte zudem mit Christoph Dietrich den idealen Regisseur ins Boot, der es verstand, das „Abschiedsgeschenk“ absolut adäquat zu inszenieren, und, wie ich finde, den schwierigen Balanceakt von Ernst und Komik in seiner Realisierung zu meistern.

Als Ausdruck des ‘schönen Scheins’ und des Futuristischen setzte der Regisseur leitmotivisch den Johann-Strauss-Walzer „An der schönen blauen Donau“ ein. Damit war auch ein Bezug zu Kubrick und seinem SF-Weltraumspektakel „2001“ gegeben, was mir gefiel, weil ich dazu bereits einige Anspielungen und Zitate in meinem Hörspiel versteckt hatte. Für die Besetzung der Alten im Stück holte sich Christoph Dietrich fünf gestandene ältere Schauspieler mit prallen Biografien und viel Verständnis für die geschilderten Lebensumstände. Fast alle konnten – rein zufällig – Skat spielen und so entstand im Studio eine echte Skatrunde. Ergänzt wurde das Ensemble durch einige junge Schauspieler, die zum ersten Mal in einem Hörspiel besetzt wurden. Spielfreude und lustvolles Miteinander waren buchstäblich die Begleiter der Realisierung, wie man deutlich heraushören kann.

Eine letzte kleine Anekdote zum Abschluss. Aus einer Hörspielredaktion kam der Einwand, am Schluss des Manuskripts ginge dann alles sehr abrupt zu Ende – als müsste eine Maximallänge berücksichtigt werden. Ich antwortete, genau so sei das nun mal im wahren Leben: Plötzlich sei alles zu Ende. Doch eine Maximallänge für die Lebenszeit, zum Beispiel 70 Jahre wie am Narayama, gibt es hierzulande zum Glück noch nicht.

Ich wünsche Ihnen ein langes Leben! Bei bester Gesundheit!

 

Die Jury meint zum „Abschiedsgeschenk“:

Roland Stiepels Stück spielt in naher Zukunft. Die Vergreisung der Gesellschaft ist fortgeschritten, die Krankenkassen, die Pflegeversicherung, die Sozialkassen können nicht mehr mithalten, die Politik hat sich eine Lösung ausgedacht: Es werden staatliche Prämien gezahlt für Menschen, die freiwillig ihr Leben beenden und also den öffentlichen Kassen nicht mehr zur Last fallen.

Die Jury sprach von Abwrackprämien für Menschen. Diese böse Satire liegt erschreckend nahe an unserer Wirklichkeit und zeigt mit nur feiner Übertreibung die Brutalität, mit der die Gesellschaft Alte oder Behinderte ausgrenzt.

Mit grotesker Selbstverständlichkeit benutzen die Betroffenen die euphemistischen Abkürzungen, hinter denen sich die Brandmarkung verbirgt: pereli, Persönlicher Rest-Lebens-Index, quale qualitäts-adjustierte Lebenserwartung. Entsprechend wird dann aussortiert… Und die Betroffenen sind einverstanden. Da winkt ja die Prämie.

Stiepel geißelt auch die Geschäftemacherei mit Alter und Pflege. Teure Sterbekliniken, noch teurere Begräbniskosten, Abzocke, und schließlich die finanzielle Volte: Wenn jemand freiwillig aus dem Leben scheidet, wird die Lebensversicherung nicht ausgezahlt. Eine Prämie wird nur gegen die andere ausgetauscht.

Wenn aber einer auf pereli und Prämie pfeift, sondern an seinem persönlichen Restleben hängt, ergibt sich eine überraschende Schlusspointe.

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