Die Neuinstallation der Worte

Ingo Schulze: Das Deutschlandgerät

ARD-Kulturwellen (MDR), So 07.09.2014, 22.30 bis 23.45 Uhr

Betritt man die Eingangshalle des ehemaligen Ständehauses in Düsseldorf, ragt auf vier filigranen Säulen ein kubischer Block in das luftige Atrium, der sich von der zweiten bis zu dritten Etage erstreckt. Das Ständehaus ist heute das Museum K21 und der aufgeständerte Block beherbergte früher den Plenarsaal des nordrhein-westfälischen Landtags. Seit 2002 befindet sich in dem Block Reinhard Muchas Rauminstallation „Das Deutschlandgerät“. Das diskrete Dröhnen, das durch den Eingangsbereich des Ausstellungsgebäudes vibriert, kommt von dieser Installation. Der 1962 in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze hat diesem Werk – eine spröde und erst auf den zweiten Blick hochkomplexe Welterklärungsmaschine – sein erstes Hörspiel gewidmet.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt. Die Journalistin Theresa Manger (gesprochen von Bettina Hoppe) bittet den Erfolgsschriftsteller Edgar Schmidt (Kai Scheve), für einen Fernsehfilm das Kunstwerk „Das Deutschlandgerät“ zu interpretieren, Der ursprünglich vorgesehene Interpret Bernd Claasen (Thomas Thieme), ein dissidenter Schriftsteller aus der ehemaligen DDR, kommt dafür nicht mehr in Frage, da er unerwartet verstorben ist, doch er hatte noch Edgar Schmidt als begabten Kollegen für die Aufgabe empfohlen. Schmidt will sich mit seiner Rolle als Lückenbüßer zunächst nicht abfinden. Doch in den Gesprächen mit der Journalistin und doppelt verschachtelten Rückblenden auf Claasen, der sowohl seinem Schriftstellerkollegen als auch der Journalistin Muchas Kunstwerk gezeigt und erklärt hatte, bekommt Muchas Installation im Hörspiel eine beeindruckende Präsenz.

Für diesen Effekt ist in der 75-minütigen Inszenierung von Regisseur Stefan Kanis die Soundspur des Hörspiels kaum zu überschätzen. Denn mit der Klangdimension der Rauminstallation kommunizieren Kompositionen von Jörg Widmann und Songs der Hamburger-Schule-Band Tocotronic, die die Gläser der Vitrinen ebenso zum Erzittern bringen können wie der Sound fahrender Autos aus Muchas Installation. Eine Überblendung des Fernsehtons der Talkshow von Anne Will darüber, ob die DDR ein „Unrechtsstaat“ genannt werden darf, soll oder muss, mit dem Tocotronic-Song „Explosion“ verleiht dem Hörspiel nicht nur einen aktuell-politischen Bezug, sondern reizt in einem grandiosen Crescendo die akustische Dynamik voll aus.

Ursprünglich war Reinhard Muchas Werk 1990 für den einst von den Nazis umgestalteten Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig gemacht worden – der seinerseits eine Maschine zu Erzeugung von Kunstwerken ist. An den Wänden der Rauminstallation befinden sich mit Filz bespannte Vitrinen, darin gebrauchte Fußbänkchen und deren rohe Messingabgüsse. Im Zentrum der Installation ein Raum im Raum, in dem die Dielen aus Muchas Atelier an die Wände gewandert sind – aus der Horizontalen in die Vertikale. Schon der Titel des Kunstwerks ist eine Metapher: Bei dem „Deutschlandgerät“ handelt es sich um eine hydraulische Vorrichtung zum Aufrichten entgleister Lokomotiven und Waggons, das von der Dortmunder Maschinenfabrik Deutschland (MFD) gebaut wurde und in dieser Funktion im Düsseldorfer Museum auch auf einem der Videomonitore zu sehen ist.

Reinhard Mucha: Das Deutschlandgerät. Foto: Jochen Meißner

Reinhard Mucha: Das Deutschlandgerät. Foto: Jochen Meißner

In Muchas Kunstwerk, das in der Zeit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung konzipiert wurde, haben sich sowohl die Orte, an denen es installiert wurde, als auch seine Produktions- und Rezeptionsgeschichte eingeschrieben. Diese Geschichte zu lesen und wiederum in Schrift zu überführen war Bernd Claasens letztes Projekt vor seinem Tod. „Am ‘Deutschlandgerät’ wollte er den Begriff der Neuinstallation von Worten und Geschichten erklären“, sagt Claasens Witwe in Ingo Schulzes Hörspiel, und das beschreibt vielleicht am besten die Funktion von Literatur in der Moderne.

In seinem Hörspiel, das nicht grundlos denselben Titel trägt wie Muchas Kunstwerk und damit den Reigen der Metaphern um eine weitere Figuration ergänzt, analysiert Schulze die Schichtungen von Bedeutungsebenen durch Zeit und Raum – was hier heißt: durch Geschichte und Politik. Dass das nicht thesenhaft abstrakt bleibt, sondern vital und konkret wirkt, ergibt sich aus der Kunstfertigkeit, mit der Schulze seine Figuren gezeichnet hat. Deren Konflikte müssen zwar ebenso posthum ausgetragen werden wie die Auseinandersetzung zwischen Dissidenz in einer (inzwischen abgeschafften) totalitären Diktatur und der Möglichkeit dissidenten Denkens in einer liberalen Demokratie – doch das tut ihrer Relevanz keinen Abbruch.

Derartige historisch-politische Gemengelagen sind nicht in simple Kontinuitäten oder Gegensätze zu fassen, sondern am besten wohl so, wie Edgar Schmidt für die Fernsehaufzeichnung am Ende des Hörspiels seine Interpretation von Muchas Werk formuliert: „Nicht nur die Horizontale ist in die Vertikale gekippt, die Vertikale ist ihrerseits umgestürzt. Der Himmel ist auf die Erde gefallen und umgekehrt wieder aufgerichtet worden.“ Mit „Das Deutschlandgerät“ ist Ingo Schulze und seinem Regisseur Stefan Kanis ein Hörspiel gelungen, das akustisch und intellektuell immer auf der Höhe der Komplexität seines Gegenstandes bleibt. Das vom MDR produzierte Stück wurde im Rahmen des im Sommer veranstalteten sogenannten „ARD-Radiofestivals“ auf den Kulturwellen aller neun ARD-Landesrundfunkanstalten ausgestrahlt.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 37/2014

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