Die Differenzen des Gesagten

Marina Frenk: Jenseits der Kastanien

MDR Kultur, So 27.11.2016, 18.00 bis 18.55 Uhr

Marina Frenk. Bild: MDR / Stephan Flad

Marina Frenk. Bild: MDR / Stephan Flad

Das autobiografische Erzählen ist im Hörspiel wie in der Literatur kein einfaches Unterfangen, weil die Erinnerung sich beständig umschreibt. Geschehenes wird neu gedeutet, Vergessenes kommt an die Oberfläche und manchmal wird auch der Referenzrahmen neu definiert. Einige der Ursachen für solch einen Wechsel des Referenzrahmens sind zum Beispiel Flucht, Vertreibung und Emigration. Marina Frenk wurde 1986 in Chisinäu in Moldawien geboren, als das Land noch ein Teil der Sowjetunion an der Grenze zu Rumänien war. Seit 1991 ist es die eigenständige Republik Moldau. Während des moldawisch-transnistrischen Bürgerkriegs 1992 stellten Marina Frenks Eltern einen Ausreiseantrag, der nach nur einem Jahr Wartezeit akzeptiert wurde. Als jüdische Kontingentflüchtlinge durften sie mit ihrer Tochter nach Deutschland einwandern.

Das Mädchen mit dem griechisch-russisch-italienisch klingendem Vornamen Marina und dem deutsch klingenden jüdischen Nachnamen Frenk spricht weder Rumänisch noch Moldoviano, eine Abwandlung des Rumänischen, sondern nur Russisch – eine Sprache, die in Moldawien ungern gehört wird, weil sie von „der neuen Menschgattung Separatist“ (so Frenk) gesprochen wird. Deutsch konnte sie damals im Flüchtlingsheim Unna-Massen auch nicht. Dann konnte sie es: „Das Gehirn vollzieht unbewusst Wunder und kann auf einmal etwas, was es vorher nicht konnte“, kommentiert die erwachsene Marina Frenk den plötzlichen Umschlag von einer Realität zur anderen, auch wenn sie immer noch die andere Sprache in sich trägt.

Marina Frenk erzählt ihre eigene Geschichte in einer Form, wie es die „Experten des Alltags“ in den Stücken des Ensembles ‚Rimini Protokoll‘ tun – als Darstellerin ihrer selbst. Diese Differenz muss immer mitgedacht werden und sie realisiert sich in ihrem Hörspiel „Jenseits der Kastanien“ (Bearbeitung und Regie: Stefan Kanis) in gleich mehreren Differenzen. Denen zwischen dem Geschriebenen, dem Gesagten, dem Gesprochen und dem Gesungenen.

Kurze, mit „Protokoll Marina Frenk“ etikettierte Passagen – das Geschriebene – werden von Dimitrij Schaad gesprochen. Geboren 1985 in Kasachstan und 1993 nach Deutschland gekommen, teilt er die biografischen Erfahrungen der Autorin. Das Gesagte besteht aus Aufzeichnungen hörbar spontaner Äußerungen der Autorin. Das Gesprochene ist der von Marina Frenk schauspielerisch gestaltete Text und das Gesungene besteht aus von der Autorin vertonten Gedichten von Paul Celan (1920 bis 1970) – des Dichters der „Todesfuge“, gebürtig aus Czernowitz in der Bukowina, nicht weit von Moldawien entfernt. Auch er ein Heimatloser.

„Kennt noch das Wasser des südlichen Bug, / Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug?“, so lautet der Beginn des Gedichts „Nähe der Gräber“, das Marina Frenk singt. Am Bug lag das Arbeitslager, in dem 1942 Celans Eltern umkamen. Das Gedicht endet mit den Zeilen: „Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?“ Oft sind die Landschaften der Heimat mit Blut getränkt und über ihnen verweht ein Ascheregen – auch das ist ein Referenzrahmen, durch den man Marina Frenks erstes eigenes Hörspiel betrachten kann.

Einer Zeile des ersten veröffentlichten Gedichts von Paul Celan, „Drüben“ aus dem Jahr 1940, ist der Titel des 55-minütigen Hörspiels entnommen: „Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.“ Migranten und Deutsche seien sich doch sehr ähnlich „in ihrer Unbehausung, ihrem Provisorium von Heimatbegriff, ihrer Scham darüber“, kommentiert Marina Frenk und fragt sich weiter: ,Yielleicht ist Deutschland eben genau deshalb das Land, das so viele Flüchtlinge aufnimmt und sich das traut vom Kopf her traut.“
Marina Frenks Reflexionen über die Migration sind von großer Leichtigkeit und Selbstironie getragen und von mindestens einer so großen Vitalität wie ihre Performance in dem Hörspiel „Und jetzt: Die Welt“, für das sie in diesem Jahr zusammen mit der Autorin Sibylle Berg mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde (vgl. MK 10/16).

Als selbsternannter „DDON“, das heißt: „Definitiver Depp Ohne Nationalität“, fragt sich Frenk in ihrem Hörspiel, wie jemand auf Migration reagiert, der nichts Autobiografisches mit dem Begriff verbindet und keine Erfahrungen mit Fremdheit, Distanz und dem ständigen Vergleichen hat. Dafür schlägt sie für Inländer wie für Migranten einen „Selbstverständlichkeitskurs“ vor. Denn „Integration ist nicht immer Gleichschaltung, Zurückstecken beider Seiten, Sich-selbst-Unterbinden. Integration muss man nicht betonen oder verlangen, sie ist einfach das Leben.“ Nach diesem Hörspiel sollte man das auch im Sendegebiet des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) begriffen haben, der das Stück produziert hat.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 25/2016

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