Das Geheimnis des Gedenkens

John Birke/Oliver Augst: Alle Toten 1914

Deutschlandradio Kultur, Fr 20.06.14, 0.05 bis 1.00 Uhr /
HR 2 Kultur, Mi 25.06.14, 21.00 bis 21.55 Uhr /
RBB Kulturradio 04.07.14, 22.03 bis 23.00 Uhr

Am 4. März fand in der vollbesetzten Berliner „Volksbühne“ am Rosa-Luxemburg-Platz eine „public recording session“ mit einem All-Star-Ensemble der musikalischen Subkulturen statt. Frieder Butzmann, Françoise Cactus, Brezel Göring, Sven-Åke Johansson, Bernadette LaHengst, Wolfgang Müller, Gabi Schaffner und Charlotte Simon brachten dort das Stück „Alle Toten 1914“ zur Aufführung. Basis war ein Textpool aus Recherche-Material, das John Birke und Oliver Augst zusammengestellt hatten und aus dem sich die Beteiligten ihre „Lieblingstoten“ aussuchen und auf ihre je eigene Weise bearbeiten konnten.

Mit diesem Projekt hebelten Augst und Birke die Rituale aus, die mit dem Gedenken an das Jahr 1914 und seiner Fokussierung auf den Beginn des Ersten Weltkriegs verbunden sind. Natürlich kommt die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand vor – in einem Song von Sven-Åke Johansson. Von den Protagonisten, die in dem rund 55-minütigen Hörspiel vorkommen, sind nur der Heimatdichter Hermann Löns und der Maler August Macke durch direkte Kriegshandlungen gestorben. Georg Trakl, der ebenfalls ausführlich gewürdigt wird, stirbt in einem Militärhospital nach einem Suizidversuch unter ungeklärten Umständen an einer Überdosis Kokain. Der Reformsozialist Jean Jaurès wird noch vor Kriegsbeginn am 31. Juli 1914 von einem nationalistischen Attentäter ermordet. Françoise Cactus singt dazu eine deutsche Übersetzung des Chansons „Jaurès“ von Jacques Brel.

Auch der Erfinder und Industrielle George Westinghouse, der die Welt mit Wechselstrom versorgte, nachdem er den von Gleichstrom-Pionier Thomas Alva Edison mit äußerst schmutzigen Mitteln geführten Kampf um die richtige Elektrifizierung der Welt gewonnen hatte, ist einer der großen Toten des Jahres 1914. Ebenso wie Bertha von Suttner, die die Schaffung des Friedensnobelpreises angeregt hatte und im gleichen Jahr stirbt wie Charles Albert Gobat, der drei Jahre vor ihr den Preis bekommen hatte. Und Papst Pius X., der sich im Ersten Weltkrieg auf die Seite Österreich-Ungarns schlug, wurde bei der Theateraufführung von Frieder Butzmann verkörpert.

Der Vollständigkeit suggerierende Titel „Alle Toten 1914“ ist einigermaßen vermessen. Dennoch ist die Liste mit den Namen der Toten des Jahres 1914, die blockweise in das Hörspiel integriert wurde, beeindruckend. Die meisten Industriellen, Juristen, Landräte, Maler, Offiziere, Schriftsteller etc. kennt man nicht (mehr). Andere wecken vage Assoziationen oder scheinen allein wegen ihrer Eigennamen eher ins 19. als ins 20. Jahrhundert zu gehören, wie beispielsweise der Gutsbesitzer Gustav Archibald von Zedlitz-Leipe. Die Liste reicht von dem österreichischen Konditor und k.u.k.-Hoflieferanten Anton Rumpelmayer über den Frankfurter Metzgermeister und Kommunalpolitiker Karl Marx bis hin zu dem Expressionisten Alfred von Lichtenstein und dem Begründer der Semiotik, Charles Sanders Peirce.

So disparat schon diese kleine Aufzählung ist, so erstaunlich harmonisch funktionieren die oft in Songstrukturen gegossenen biografischen Erzählungen durch die akustische Rahmung, die ihnen Oliver Augst gegeben hat. Aus Voraufnahmen im Studio und der Live-Aufführung ergibt sich in der Mischung ein homogenes Ganzes. Ohne Pathos, aber auch ohne Ironie gelingt es dem Hörspiel, das Geheimnis des Gedenkens, das am Beginn jeder Kultur steht, gleichzeitig zu wahren und zu verraten. Es sind zwei Zeilen aus der neuen Single von Wolfgang Müller, die auf denkbar schrägste Weise diese Kulturleistung beschreiben: „Fra-fra-fra-fra-fragil ist die Welt / Wie-wie-wie-wie wieder-wieder-derholung macht sie stabil.“

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 26/2014

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