Auf zwei Planeten

Gesine Schmidt: Oops, wrong planet!

Deutschlandfunk, Sa 13.10.2012, 20.05 bis 21.15 Uhr

Die Zwillinge Konstantin und Kornelius sprechen nicht. Sie haben das noch nie getan und werden es wohl auch in Zukunft nicht tun, denn sie sind Autisten. Und doch ist ihre Heimat die Sprache: „sprache ist der sinn unsres seins. reden ist unfertig und unexakt. wer laut spricht, der zerstört seine welt“, schreiben die beiden. Wie bringt man solche Sätze zu Gehör? Wie macht man das Nichtsprechen derer hörbar, die nur schriftlich mit der Welt umgehen?

In Gesine Schmidts rund 70-minütigem Hörspiel „Oops, wrong planet!“ hat Regisseur Walter Adler die hochverdichteten Texte der Zwillinge von den Schauspielern Matthias Koeberlin und Florian Lukas Wort für Wort sprechen lassen – und zwar beginnend mit dem letzten Wort und endend mit dem ersten. Jedem Wort wurde so der immergleiche Rhythmus und der immergleiche Ausdruck gegeben – ohne dass die Schauspieler den Texten im Vorhinein einen Sinn hätten unterlegen können. In mühsamer Kleinarbeit wieder im Schnitt in die richtige Reihenfolge gebracht, bekommen die Wörter etwas Künstliches, die Stimmen etwas Synthetisches und die Texte eine eigene Schwerkraft, die unabhängig vom Vorverständnis der Sprecher besteht, die die Wörter ansonsten unvermeidlich mit Bedeutung unterfüttert hätten. Mal laufen beide Stimmen beinahe synchron, öfter jedoch wechseln sie von Wort zu Wort und manchmal werden die Texte auf einer dritten Ebene von dem Bariton Christof Hartkopf in einer neutönerischen Komposition von Pierre Oser gesungen. Das geht und funktioniert so nur im Hörspiel.

„unsere gelassenheit kommt aus der gewissheit, dass wir eins sind. Wir sind zwei personen, aber eins in der denkart, eins im leben. das ist sehr praktisch. […] wir treten als zwei auf und sind doch einer. das ist unvorstellbar für alle, die meinen, als einzelperson ihre indvidualität sichern zu müssen. wir sind zwei und unsere individualität ist mehr als zwei, sie potenziert sich“, schreiben die Zwillinge. Das Prinzip der Verdoppelung findet sich auch noch auf anderen Ebenen dieser herausragenden Inszenierung von Walter Alder. Denn die Zwillinge sind nicht die einzigen Figuren, die Gesine Schmidt bei ihren ausführlichen Recherchen im autistischen Milieu gefunden hat.

Da ist der lebens- und wissenshungrige Teenager Steven (Tom Schilling) mit Asperger-Syndrom, der unbedingt Vulkanologe werden will und vor lauter Mitteilungsdrang in seinem überhasteten Duktus immer wieder einzelne Wörter verdoppelt. Und da ist Doreen, Mutter von Lena, die mit frühkindlichem Autismus zur Welt kam. Susanne Lothar – in ihrer letzten Rolle eine Woche vor ihrem Tod am 21. Juli dieses Jahres – spielt diese beiden weiblichen Figuren als Doppelrolle und schont sich nicht, wenn sie ihre ganze Expressivität in das Kreischen ihrer Tochter legt, weil die Welt des Öfteren nicht zur autistischen Tochter passen will. Schließlich ist da noch Christine (Lena Stolze), eine approbierte Ärztin, die erst mit 27 Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom bekam. Sie empfindet die Gesellschaft anderer Menschen als Zumutung und Veränderungen aller Art sind das Schlimmste, was sie sich vorstellen kann, und doch ändert sich andauernd irgendetwas.

Der Titel „Oops, wrong planet!“ stamme „aus dem autistischen Untergrund“, verriet Gesine Schmidt in einem Interview mit Michael Langer im Anschluss an die Ausstrahlung ihres Hörspiels, er beziehe sich auf das Asperger-Syndrom und sei ein selbstironischer Reflex, bei dem sich die Betroffenen nicht als Opfer sähen, sondern der Welt die Schuld an ihrer Situation zuschrieben. Wer die Nerd-Soap „The Big Bang Theory“ (Pro Sieben) mag, wird mit dieser Metaphorik in Bezug auf deren Hauptfigur Dr. Sheldon Cooper vertraut sein.

Dass die Persönlichkeitsprofile der von Asperger und Autismus Betroffenen genauso vielfältig sind wie die der „Neurotypischen“, ist nur eine Erkenntnis dieses auf authentischen Schicksalen basierenden Hörspiels. Opfer sind die porträtierten Figuren alle nicht, weder die Ärztin noch die Zwillinge, die gerade an der Universität Potsdam ihr Philosophie-Studium beenden und die das Wochenblatt „Die Zeit“ als „Die Andersdenkenden“ nobilitiert hat. Auch bei Steven und Christine hofft man, dass sie sich mit ihrem starken Willen auch auf dem falschen Planeten durchsetzen werden. Im Hörspiel tun sie das schon auf eindrucksvolle Weise.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 43/2012

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