15. ARD Hörspieltage 2020 – Die Preisträger

Der Deutsche Hörspielpreis der ARD

Christoph Buggert

Christoph Buggert. Bild: SWR/Benh Moser.

Der Deutsche Hörspielpreis der ARD geht an das Hörspiel „Einsteins Zunge – Aus dem Nachlass meines Bruders“ von Christoph Buggert. Regie und Komposition: Liquid Penguin Ensemble (das sind Katharina Bihler und Stefan Scheib), Produktion: Saarländischer Rundfunk (Kritik hier). Der Preis ist mit 5.000 Euro dotiert.

Das Preisträgerstück wird von allen Kulturwellen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im deutschsprachigen Raum übernommen (als erstes am Sonntag, den 8. November um 18.20 Uhr auf SWR 2). Auf der Shortlist der Jury aus den insgesamt zwölf von den Sendern nominierten Stücken standen außerdem das Stück „Hyperbolische Körper“ von Andrea Geißler und die halbdokumentarische Produktion „Einsam stirbt öfter – Ein Requiem“ von Gesche Piening, Regie: die Autorin, Produktion: BR (Kritik hier).

Die Begründung der Jury

„Danke für Alles, aber jetzt muss ich los, Einstein wartet, er will mir das Universum zeigen.“ Mit diesen letzten Worten verabschiedet sich der Bruder des Erzählers von unserer Welt. Er hinterlässt einen schier endlos kreativen Nachlass, den der Erzähler als Anlass nimmt, sich mit dem zu beschäftigen, was sich hinter dem Leben seines Bruders Georg, einem erfolgreichen Geschäftsmann, verbarg. Er findet Kassetten, Briefe, Tagebücher, 811 durchnummerierte Träume, Kindheitserzählungen, philosophische wie wissenschaftliche Texte. Es waren die großen Fragen, die seinen Bruder nicht losließen und denen er mit Humor, Fantasie, aber auch gewissenhaftem Studium nachging. Wie sich uns dieser Georg nach und nach in seiner Eigenartigkeit ins Herz schließt, wie er uns auch nach seinem Tod einlädt, das Mysteriöse an unserer Existenz nicht aus den Augen zu verlieren, hat uns als Jury sehr berührt. Die Umsetzung dieses komplexen und klugen Textes von Christoph Buggert ist Katharina Bihler hervorragend gelungen. Die verschiedenen Erzählebenen fügen sich dramaturgisch fein ineinander und schaffen ein Gesamtbild, das seine Tiefe auch beim zweiten und dritten Mal Hören nicht verliert.“

Die Jury: Doris Dörrie, Maryan Zarree, Ulrike Kriener, Anta Helena Recke und Rafik Will.

Der ARD Online Award

Der mit 2.500 Euro dotierte Publikumspreis ARD Online Award geht mit 17,2 % der abgegebenen Stimmen an „Hyperbolische Körper“ von Andrea Geißler, Komposition und Regie: Ulrike Haage, Kreiselkonstruktion Philipp Fiedler, Produktion: HR.
Auf Platz 2 landete mit  15,8 % „Einsam stirbt öfter. Ein Requiem“ von Gesche Piening, auf Platz 3 mit 13,6 % „Die Entgiftung des Mannes“ von Holger Böhme.
Das Preistägerstück parallelisiert die Geschichten zweier Mathematikerinnen, der 1850 geborenen Russin Sofia Kowalewskaya (Valery Tscheplanowa) und der 1977 geborenen Iranerin Maryam Mirzakhani Mathematikerinnen (Jasmin Tabatabai). Kowalewskaya berechnete die Bewegungsgleichungden eines nach ihr benannten Kreisels, Mirzakhani beschäftigte sich mit der hyperbolischen Geometrie und wurde als erste Frau mit der Fields-Medaille, dem „Nobelpreis“ für Mathematik, ausgezeichnet.

Andrea Geißler

Andrea Geißler. Bild: SWR/Taoufiq El Mrabet.

 

Der Preis für die beste schauspielerische Leistung in einem Hörspiel

Carina Wiese

Carina Wiese als Steffi. Bild: MDR/Olaf Parusel.

Carina Wiese wurde für die beste schauspielerische Leistung in der Rolle der Steffi in der Radiokomödie in zehn Szenen „Die Entgiftung des Mannes“  von ab Holger Böhme (Regie: Stefan Kanis, Musik: Michael Hinze (Hammondorgel), Produktion: MDR, ausgezeichnet. Der Preis ist mit 3000 Euro dotiert.
Die Freundinnen Steffi und Isa (Anja Schneider) treffen sich dreißig Jahre nach der Wende wieder und versuchen Steffis Mann Jochen, der ins Pegida-Milieu abgerutscht ist, für die Demokratie zurückzugewinnen.

Die Begründung der Jury

Steffi bleibt skeptisch, beteiligt sich jedoch an Isas Vorhaben, den dauerstänkernden Jochen für Demokratie, Toleranz und Vielfalt zurückzugewinnen. Doch die „Entgiftung des Mannes“ gestaltet sich schwieriger als gedacht. Neue Barrieren erfordern neue Einfälle und lassen die beiden Frauen schließlich zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen. Eine turbulente Radio-Komödie nimmt ihren Lauf, die den Herbst ’89 unmittelbar mit dem Herbst 2019 verknüpft.

Der Deutsche Kinderhörspielpreis

Stella Menzel und der goldene Faden

Das Ensemble von „Stella Menzel und der goldene Faden“. Bild: rbb/Oliver Ziebe.

Der Deutsche Kinderhörspielpreis geht an die Hörspielbearbeitung ihres gleichnamingen Buches „Stella Menzel und der goldene Faden“ von Holly-Jane Rahlens in der Regie von Leonhard Koppelmann, Komposition: Peter Kaizar, eine Koproduktion von RBB und NDR. Der Preis ist mit 5.000 Euro dotiert und wird von der Film- und Medienstiftung NRW sowie den Sendern der ARD vergeben.

Die Begründung der Jury

Kein Abrakadabra, aber eine ganz besondere Geschichte, eine Geschichte über einen verzauberten Stoff verspricht Josephine ihrer Enkelin Stella und taucht dabei tief ein in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Vom Russland der Zarenzeit, die bald enden wird, erzählt sie, und von Berlin, das in den Goldenen Zwanzigern vibriert, sie erzählt von der Flucht der jüdischen Familie nach New York und vom Leben im Exil, und sie erzählt vom Neuanfang in Deutschland, und all das geschieht in Holly-Jane Rahlens Hörspiel – von ihr selbst fürs Radio geschrieben nach dem gleichnamigen Buch – auf überaus kindgerechte und dabei lehrreiche Weise.

In „Stella Menzel und der goldene Faden“ liebt Stella ein Kleid aus dem Stoff eines Wandbehangs. Dieses Erinnerungsstück, das Stellas Urgroßmutter aus St. Petersburg nach Berlin mitnahm, begleitet leitmotivisch die Geschicke von vier Generationen in diesem von Geschichten und Geschichte prall gefüllten Hörspiel, das Leonhard Koppelmann mit ebensolcher Opulenz inszenierte: Holly-Jane Rahlens erzählt beherzt vom Überleben mit Traditionen, Verlusten und frischen Erfahrungen; ein Hörspiel für Kinder, das darüber hinaus die gesamte Familie zu fesseln versteht.

Eine lobende Erwähnung möchte die Jury „Kannawoniwasein – Manchmal fliegt einem alles um die Ohren“ von Martin Muser aussprechen [Regie: Judith Lorenz, Komposition: Lutz Glandien, Produktion: WDR]. In diesem ebenso witzigen wie spannungsreichen Hörspiel geht es in den Sommerferien nach Polen – dabei spielt Abenteuerlust eine gewichtige Rolle, aber nicht minder die Realität eines neu zu entdeckenden Landes.

Die Jury: F. Die Top 5 aus den insgesamt 23 Einreichungen waren: „Das letzte Schaf“ von Ulrich Hub (MDR), „Ich! Fliege! Nicht!“ von Thilo Reffert (HR), „Kannawoniwasein – Manchmal fliegt einem alles um die Ohren“ von Martin Muser und Judith Ruyters (WDR), „Stella Menzel und der goldene Faden“ von Holly-Jane Rahlens (rbb/NDR), „Wir nannten ihn Tüte“ von Frauke Angel (Deutschlandfunk Kultur).

Der Kinderhörspielpreis der Stadt Karlsruhe

Der mit 2.000 Euro dotierte Kinderhörspielpreis der Stadt Karlsruhe wird dieses Jahr von der Klasse 4a der Südendschule vergeben und  ging zu gleichen Teilen an das Hörspiel „Wir nannten ihn Tüte“ von Frauke Angel (Regie: Friederike Wigger, Musik: Andreas Weiser, Produktion: DLF Kultur) und den Berliner Hörspielregisseur und -autor Robert Schoen für die Bearbeitung des Romans „Das Wunder von Narnia“ von C.S. Lewis, (Übersetzung: Ulla Neckenauer, Musik: b.deutung, Produktion: SWR).

Die Klasse 4a der Südend-Grundschule

Die Klasse 4a der Südend-Grundschule Bild Frauke Ruetz.

Der ARD PiNball

Vivien Schütz und Stefanie Heim

Vivien Schütz und Stefanie Heim.

Der mit 1000 Euro dotierte Preis für freie Produktionen, der ARD PiNball ging an das 15-minütige Kurzhörspiel „Re:Produktion“ von Vivien Schütz und Stefanie Heim. Aus Sprachnachrichten, die zwischen New York und Erfurt hin- und hergeschickt werden. Aus der Begründung der Jury: „RE-Produktion erzählt vom Versuch eines offenen und ehrlichen Gespräches über reproduktive Selbstbestimmung, ein Gespräch das in unserer Gesellschaft paradoxerweise einerseits schon ganz selbstverständlich und andererseits doch noch außergewöhnlich erscheint.“

Die Begründung der Jury

Die zwei Protagonistinnen des Hörspiels „RE-Produktion“, eine von ihnen befindet sich in New York, die andere vermutlich irgendwo in Deutschland, schicken sich Sprachnachrichten über den Ozean und erleben zwei gegenläufige Geschichten, die das Hörstück in einem äußerst gelungenen Spannungsbogen in einander greifen lässt. Die Figuren befinden sich in einem asynchronen Dialog, in der die naheliegende Ping-Pong-Struktur der Sprachnachrichten immer wieder durch erzählerisch motivierte Brüche unterlaufen wird. Das Stück spielt bravourös mit den unterschiedlichen Wissensständen der Figuren und der privilegierten Wissensposition der Hörer:in. Mal ist jemand etwas voraus, mal versucht jemand aufzuholen – das zieht die Hörer:in wirkungsvoll in die Geschichte hinein. Bemerkenswerterweise geschieht dies trotz des ausgeprägten Realismus‘ weniger im Sinne eines immersiven „Hineingezogenwerdens“ in eine Szene sondern eher im Sinne eines fordernden „Hineingezogenwerdens“ in die Leerstellen der Erzählung. Die Hörer:in wird zur Mitwisser:in und Mitdenker:in zwischen den Sätzen und Nachrichten. So wohnen wir einem intimen Gespräch (teilweise auch Selbstgespräch) bei und sind uns der voyeuristischen Position als Hörer:in durchaus bewusst. Das konsequent durchgehaltene Prinzip dieser technisch sehr einfachen Produktionsweise (Sprachnachrichten via Smartphone) wird als medienspezifische akustische Erzähltechnik künstlerisch überzeugend eingesetzt.

Die beiden Figuren sind junge Erwachsene einer Generation, die damit aufgewachsen ist, sich selbst zu analysieren. Diese Art und Weise über sich selbst zu sprechen ist präzise beobachtet und in der Inszenierung des Hörstückes in eine authentische Sprache überführt. Die schauspielerische Leistung ist dabei so überzeugend, dass es wohltuend undurchsichtig bleibt ob hier eigentlich improvisiert oder nach Manuskript gespielt wurde.

Das titelgebende Thema der „Reproduktion“ wird dabei auf eine glaubwürdige und realitätsnahe Weise von zwei reflektierten Protagonistinnen mit sehr unterschiedlichen Ausganssituationen behandelt. Dabei gelingt es dem Hörstück durch einen unaufgeregten Zugriff auf emotional und politisch stark aufgeladene Themen wie Kinderwunsch, Social Freezing, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch eine interessante und eigenständige Perspektive einzunehmen. Es zeigt den selbstverständlichen Umgang mit neueren Reproduktionstechniken und die autonomen Entscheidungsfindungen der zwei Frauen. Dabei verhandeln sie ganz praktische und persönliche Fragen des selbstbestimmten Umgangs mit dem eigenen Körper. Der gewählte narrative Zugriff auf das Thema der reproduktiven Selbstbestimmung lässt im Hintergrund auch die politische Dimension des Themas mitschwingen. Gleichzeitig zeigt das Hörstück, wie die Kommunikation über Ländergrenzen und Zeitverschiebungen hinweg für diese Generation zum Alltag gehört.

„RE-Produktion“ ist ein Hörspiel, das die inszenatorischen Mittel konsequent aus seiner formalen Setzung ableitet und dramaturgisch klug einsetzt. So klug, dass man sie nie als bloßen Effekt, sondern immer als plausibles Mittel für die Erzählung der Geschichte wahrnimmt. Es erzählt vom Versuch eines offenen und ehrlichen Gespräches über reproduktive Selbstbestimmung, ein Gespräch das in unserer Gesellschaft paradoxerweise einerseits schon ganz selbstverständlich und andererseits doch noch außergewöhnlich erscheint. Dafür wird es mit dem ARD PiNball 2020 für das beste Kurzhörspiel der freien Szene ausgezeichnet.

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